Die Berliner Band Gewalt vor ihrem großen Heimspiel: Die dunkle Seite des Erfolgs

Er hat lange überlegt, ob er es wirklich wagen soll. Er würde vor Publikum über seine Band reden müssen. Ok, Patrick Wagner tut nichts lieber als das. Er würde sich in den Mittelpunkt stellen. Auch eine Sache, die ihm wohl läge. Er würde vom Scheitern erzählen, was ebenfalls nichts Neues wäre. Aber vor allem würde er sich seiner letzten Illusionen berauben, und das würde weh tun. Da hört der Spaß auf.

Schließlich stellte sich Patrick Wagner in den Mittelpunkt, hielt Mitte September einen Vortrag bei den Fuck-Up-Nights in Berlin, einer beliebten, von ihm mitgegründeten Veranstaltungsreihe, in der Menschen aus allen erdenklichen Sparten von persönlichen Krisen und Wendepunkten berichten, und er nun eben davon, dass sich seine Band „unter Wert“ verkaufen müsse.

Die Sache sei gut gelaufen, meint Wagner hinterher. „Aber um ehrlich zu sein: Eine Band mal ausschließlich auf wirtschaftlicher Ebene zu analysieren, dann auch noch die eigene, das wünscht man niemandem.“

Ein Manager hätte Wagner vielleicht von diesem Schritt abgeraten. Aber Gewalt, die Berliner Band, um die es in Wagners Vortrag ging, hat keinen Manager. Sie hat auch kein Label mehr. Und sie könnte auch auf ihre Booking-Agentur verzichten. Und das ist das Problem: Die Infrastruktur des Musikgeschäfts, das professionellen Musikern erlaubt, professionell zu arbeiten, ist so weit erodiert, dass viele von Bürgergeld und Nebenjobs leben. Die Marke, um die sich ein Manager vielleicht Sorgen machen würde, ist das eine. Etwas anderes die Unmöglichkeit, eine Existenz auf ihr zu gründen.

Ehe kaputt, Business kaputt, kein Geld mehr

Dabei haben viele Musiker und Musikerinnen durchaus Erfolg, ziehen ein wachsendes Publikum an, wie Gewalt es durchaus auch tut, wenn sie am 2. Oktober ihr bislang größtes Berlin-Konzert im RSO geben werden.

Aber was heißt schon Erfolg in einer Branche, die nach der Digitalisierungswelle der 90er Jahre den nächsten Strukturwandel zu bewältigen hat – diesmal durch KI-Programme? Und was ist ein Erfolg wert, der sich nicht auszahlt?

Gewalt, das sind drei Menschen und eine Maschine: Wagner und seine Lebensgefährtin Helen Henfling an den Gitarren sowie Neumitglied Sol Astolfi am Bass. Die Beats sind programmiert. Nach etwas weniger als zehn Jahren stehen sie wieder wie am Anfang vollkommen allein da. Allerdings hat das Trio 60 Auftritte in diesem Jahr bereits absolviert. Im Oktober und November begibt man sich auf eine selbst organisierte Europa-Tournee.  

Das ist imposant für ein Projekt, das seine Ursprünge in einer tiefgreifenden Lebenskrise des früheren Label-Gründers und Musikmanagers Wagner hatte. Nach Jahren, in denen sich der gebürtige Pfälzer vergeblich gegen den ökonomischen Abstieg der Indie-Kultur gestemmt hatte und mit seinem eigenen Label Louisville schließlich doch Pleite ging, war er auch seelisch am Boden: Ehe kaputt, Business kaputt, kein Geld mehr und nichts, woran sich anknüpfen ließe.

Wagner rutschte in ein Loch, seelisch und psychisch bankrott. Die politischen Haltungsfragen, mit denen er sich als Szenegröße und Frontman der Rockgruppe Surrogat herumgeschlagen hatte, kamen ihm lächerlich und abgenutzt vor. Auf dem Grund seiner Depressionen gelangte er zu der Erkenntnis, dass „weitermachen zu müssen die Gewalt über uns ist, der wir nicht entkommen“.

„Fuck, ich muss hier raus / Dann fällt mir auf, das kann ich nicht / Das läuft so nicht.“

Patrick Wagner im Song „Das kann ich nicht“

Mit diesem Gedanken hatte er 2016 etwas zu fassen bekommen, das in Musik übersetzt vielleicht Bedeutung gewinnen könnte – für ihn selbst, aber auch für ein Publikum, das an Pop-Parolen nicht mehr glaubt und mehr von Musik erwartet als organisierte Trivialität.

So gründeten Wagner und Henfling eine Band, die es ernst meinen und sich stilistisch an Wagners All-Time-Favorite Steve Albini orientieren würde und dessen kompromisslosem Postpunk-Minimalismus von Shellac anno 1998: ein harter, magerer Industrial-Sound, eintönige, demonstrativ künstliche Beats und breite Gitarrenriffs. „Berlin Wutwave“ lautet das selbst erfundene Etikett.

Industrial-Minimalismus. Gewalt sind drei Menschen und eine Maschine.

© promo

Zum Hit wurde 2019 die Single „Deutsch“, aus naheliegenden Gründen: Wie das Trio mit der Angst und Gefühllosigkeit eines „fiesen Mobs“ abrechnete, war ein prägnantes Beispiel deutschen Selbsthasses, der immer anschlussfähig ist. Grandios dabei, wie Wagner stotternd, fast würgend das Wort „D-D-D-Deutsch!“ ausspuckte. Da hatte er den inneren Hitler in sich aktiviert und der Lächerlichkeit preisgegeben. Im Ausland kam das besonders gut an, „weil der Deutsche sich da vorführt“, wie Wagner glaubt. „Nur in Deutschland klappt das nicht.“

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Als Gewalt eine Croud-Funding-Kampagne initiieren, um 10.000 Euro für zwei Konzerte in den USA zusammenzukriegen, und Demo-Aufnahmen ihres noch unveröffentlichten Albums als Belohnung versprechen, reagiert das Label verärgert. Es habe vorher nichts von diesem Angebot erfahren. Wagner erklärt den Streit so: „Wenn der Markt so eng wird, dass sich jeder fragt, ob das Geschäftsmodell noch Sinn macht, geht man erstmals aufeinander los, statt zusammenzuarbeiten.“

Für das Label war der Vorstoß der Künstler „der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“, wie Clouds-Hill-Gründer Johann Scheerer auf Nachfrage mitteilt. „Wir haben die Band unter Vertrag genommen, weil wir von ihrer extremen Haltung beeindruckt waren. Leider haben wir mit der Zeit feststellen müssen, dass sich diese vor allem in einer extremen Destruktivität in der Zusammenarbeit manifestiert. Leider hat uns Gewalt nach jahrelangen Hilfestellungen unsererseits einseitig und unabgesprochen die Geschäftsgrundlage entzogen, was wir sehr bedauern.“