Gorki Theater und Rimini Protokoll aus Berlin dabei
Wieder war es ein „pandemiegeprägtes Theaterjahr“. Entsprechend hebt Yvonne Büdenhölzer, die Leiterin des Theatertreffens, die Verdienste ihrer siebenköpfigen Kritiker:innen-Jury hervor, die es selbst im Corona-Varianten-Trubel aus 2-G- Plus, Maske, Schnelltest, Vorstellungsausfall und Premierenverschiebung geschafft hat, 540 Inszenierungen in 63 Städten zu sichten. Die zehn bemerkenswertesten davon – die sämtlich eine analoge Aufführung erlebt haben – sollen im Mai in Berlin zu sehen sein. Nach derzeitigem Stand in Präsenzfestivalform.
Anders als in früheren Jahren wird die (digital übertragene) Pressekonferenz im Haus der Berliner Festspiele nicht von salbungsvollen Gesellschaftsbetrachtungen des geschiedenen Intendanten Thomas Oberender eingeleitet (googeln Sie gern nach den Gründen). Ganz ohne Auseinandersetzungen mit dem weißen Mann kommt aber auch dieser Theatertreffen- Jahrgang nicht aus, obwohl er einmal mehr Yvonne Büdenhölzers 50-Prozent- Frauenquote übererfüllt – eingeladen sind sechs Arbeiten von Regisseurinnen.
Drei Ausflügen in parallele Welten
Ewelina Marciniak hat am Nationaltheater Mannheim Schillers „Die Jungfrau von Orleans“ in einer Bearbeitung von Joanna Bednarczyk derart gründlich dekonstruiert, dass die „Jungfrau als männliches Konstrukt sichtbar wird“, so das Jury-Lob. Die erstmals nominierte Regisseurin und Choreografin Pinar Karabulut wiederum entsorgt an den Münchner Kammerspielen mit dem Stück „Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)“ von Sivan Ben Yishai das Patriarchat „symbolisch auf dem Kompost der Geschichte“.
Lange überfällig! Und Regisseurin Claudia Bauer, Dauergästin beim Theatertreffen, sucht am Volkstheater Wien (das erstmals seit 1970 wieder eingeladen ist) die Reibung mit dem gar nicht mehr so hoch geschätzten Dichter Ernst Jandl. „Humanistää! eine abschaffung der sparten“, heißt der Abend.
Freilich sollte es am Theater – und erst recht beim Theatertreffen – nicht nur um Gender, sondern auch um soziale Fragen gehen. Aus Hannover kommt die Inszenierung „Ein Mann seiner Klasse“ von Lukas Holzhausen, der Christian Barons gleichnamigen Roman über das Aufwachsen bei einem jähzornigen Alkoholiker-Vater im Kaiserlautern der 1990er Jahre adaptiert hat. Vom Staatsschauspiel Dresden eingeladen ist die Arbeit „Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie“, die Volker Lösch (lange nichts von ihm gehört) nach Molière, Soeren Voima und Thomas Piketty inszeniert hat. Ein wilder Ritt durch die Siegesjahre des Neoliberalismus.
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Wie man brennende gesellschaftliche Diskurse – von Cancel Culture über Diskriminierungsvorwurf bis zur Machtmissbrauchsdebatte – nicht nur bestechend klug und ambivalenzreich, sondern auch musikalisch mitreißend verhandeln kann, zeigt Yael Ronen in „Slippery Slope“ am Gorki Theater. Und auch Regisseur Christopher Rüping weiß um die krampflösende Wirkung von Songs. Weswegen er seinen Dante-Alighieri-Abend „Das neue Leben“ am Bochumer Schauspielhaus mit Werken von Meat Loaf und Britney Spears auflädt.
Komplettiert wird die Theatertreffen-Auswahl von drei Ausflügen in parallele Welten. Helgard Haug von Rimini Protokoll schneidet in ihrer großartigen Arbeit „All right. Good night.“ – koproduziert unter anderem vom HAU – das spurlose Verschwinden eines Passagierflugzeugs gegen die fortschreitende Demenz ihres Vaters.
Toshiki Okada erzählt in „Doughnuts“ (Thalia Theater Hamburg) von einer realitätsentkoppelten Gruppe von High-Performer:innen. Und die Installationskünstlerin Signa Köstler schickt das Publikum in „Die Ruhe“ (Hamburger Schauspielhaus) auf einen düsteren Performancetrip in eine Baum-Klinik. Noch fraglich, ob die aufwändige Arbeit beim letzten Theatertreffen, das Yvonne Büdenhölzer verantwortet (sie übernimmt eine neue „reizvolle Aufgabe“) tatsächlich gezeigt werden kann. Ein wenig Waldesruh wäre willkommen!