Ausbruch aus der Schönheitsfalle
„Kylie Jenner knackt als erste Frau Marke von 300 Millionen Instagram-Followern“ lautet eine Boulevard-Schlagzeile der vergangenen Tage. Warum Unmengen von Menschen (die Comicautorin Liv Strömquist eingeschlossen) gerne oder aber zumindest zwanghaft täglich die Instagram-Performance der Jenners und Kardashians konsumieren, darum geht es unter anderem in Strömquists neuem Werk „Im Spiegelsaal“ (aus dem Schwedischen von Katharina Erben, avant, 168 S., 20 €).
Kylie öffnet gewissermaßen die Tür zum titelgebenden Spiegelsaal bzw. eröffnet das erste von fünf Kapiteln, in dem Strömquist ihre eigenen Social-Media-Gewohnheiten im Speziellen und die Schönheitsdiskurse der Gegenwart im Besonderen reflektiert und (psycho)analysiert.
Auf der ersten Seite sieht man in drei horizontalen Panels jeweils fünf Frauen, die nackt auf dem Boden hocken; ihre Köpfe sind nach vorne gebeugt, so dass die langen, offenen Haare, ihre entblößten Körper bedecken. Die Haarfarbe der rechten Figur changiert: im ersten Panel ist sie türkis, im zweiten zartlila, im dritten knallpink. Während die anderen Figuren in der gleichen Position verharren, hebt sie im letzten Panel ihren Kopf und blickt die Betrachtenden an. Wir sehen einen voluminösen, rosafarbenen Kussmund, ein feines Näschen und ein großes Auge mit langen Minnie-Maus-Wimpern (das andere liegt hinter der pinken Haartolle versteckt).
Der Text zur Choreografie lautet: „Es waren einmal fünf Schwestern. Sie waren die schönsten Schwestern auf der ganzen Welt. Und genau wie in allen vernünftigen Märchen war die jüngste Schwester die schönste.“ Auf der nächsten Seite wird die „Schönste“ in einem Splash Panel in neuer Pose imposant in Szene gesetzt: Die pinken Haare reichen über das ausladende Hinterteil, das durch ein enganliegendes, hellrosafarbenes Kleid und die artifizielle Pose zusätzlich betont wird. Um sie herum sind Blumen drapiert, die sich teilweise um fetten pinke Lettern ranken: „Ihr Name war Kylie“ steht dort geschrieben.
Auf den nächsten vier Seiten finden sich Nachzeichnungen einzelner Kylie-Postings auf Instagram (zum Beispiel im Dior-Partnerlook mit ihrer kleinen Tochter, im Bikini, in Blue Jeans, als sexy Matrosin) inklusive der „Gefällt mir“-Angaben und Kommentare von Fans („OMG those nails are gorgeous“, „You are so blessed lady Janner, stay that way.“), Neider*innen und Off-Topic-User*innen, die lediglich versuchen, die Reichweite für eigene Marketinganliegen zu nutzen.
Wilde Bilder und wohldosierte Theorie
Die Kombination aus Videoclip-Performance, psychoanalytisch deutbaren Märchenvokabular (Bettelheim lässt grüßen!), Flower Power-Reminiszenzen und psychedelischer Farbgebung, lächerlichen Posen und nachgezeichneten Postings sorgt für einen knalligen Einstieg in den Diskurs um die Anziehungskräfte von Instagram-Beautys.
Vor allem der Kunstgriff, die echten Instagram-Einträge in Bilder zu übersetzen, erweist sich als besonders effizient. Durch die Verschiebung von Fotografie zu Comic wird die an Insta-Feeds gewohnte, passive Lesart irritiert und dafür gesorgt, dass den Details der Inszenierungen ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt wird. Artifizialität und Profanität der Posen, Postings und Paratexte werden unmittelbar ausgestellt.
Strömquist bombardiert die Lesenden also zunächst mit einer Fülle von ästhetischen Eindrücken bevor sie sich der Theorie widmet. Der Mehrwert, den das Medium Comic durch die Kombination aus Bild und Text in populärwissenschaftlichen, essayistischen Auseinandersetzungen mitbringt, kann gar nicht oft genug betont werden. Nicht nur, aber erst recht, wenn es wie im aktuellen Comic um visuelle Phänomene geht, kann die Bildebene die Ausführungen zusätzlich rhythmisieren (wie auf der ersten Seite) und den Gegenstand der Untersuchungen zeigen, subtil kommentieren, ironisieren und konterkarieren (siehe die Instagram-Posts).
Zusätzlich zum visuellen Feuerwerk bietet Strömquist dann aber auch die geballte Ladung Theorie, die allerdings (dem Medium Comic sei Dank!) in einzelnen Panels gut portioniert aufbereitet wird. Die Bedeutung der typografischen Gestaltung sollte nicht unterschätzt werden, „weil Liv Strömquist den Text so zeichnet, als wäre jeder Buchstabe ein Ausrufezeichen“, wie Andrea Heinze es in ihrer sehr hörenswerten Rezension für rbbKultur formuliert.
Der Mensch begehrt, was andere begehren
Gastauftritte der grafischen Versionen unterschiedlichster Expert_innen aus Philosophie und Soziologie bieten die Gelegenheit O-Töne und ausgewählte bon mots in Sprechblasen zu präsentieren. Erklärungsansätze für autodestruktiven Instagram-Voyeurismus findet Strömquist unter anderem bei der feministischen Kulturhistorikerin Camille Paglia, die sich über die Neidkultur unter Frauen echauffiert („What a ridiculous attitude to take!“) und beim Philosophen René Girard, dessen mimetische Theorie sich in folgender Aussage resümieren lässt: „Der Mensch begehrt, was andere begehren.“
Dass sich mit dieser Theorie der Schlankheitswahn erklären lässt (der trotz aller Rufe nach „Body Positivity“ und Ablenkungsmanöver, mit denen Diäten als rein gesundheitlich motiviert geframed werden, unser aller Handeln dominiert) illustriert Strömquist in kleinen Anekdoten, die durch den gewohnt roughen Stil und zugespitzte Darstellungen bestechen. Zu bestaunen sind etwa die Kaiserinnen Sisi und Eugénie beim gegenseitigen Wespentaillen-Messen.
Die fabelhafte Liaison von Comic und Essay
In insgesamt fünf Essays werden unterschiedliche Aspekte der Schönheitsdebatten unserer Tage beleuchtet. Es geht zum Beispiel um die gewachsene Bedeutung der Sexyness für Eheschließungen unserer Tage, um die fragilen Beziehungsgefüge im Kapitalismus, um Fragen der Definition und Rezeption von Schönheit, um den aussichtslosen Kampf gegen die Vergänglichkeit der jugendlichen Schönheit und die Folgen der Selfiesucht, in der das eigene Bild zum Feind werden kann.
Zu Wort und Bild kommen unter anderem Norman Rockwell, allerlei Bibelprotagonist*innen, Eva Illouz, Susan Sontag, Hartmut Rosa, Schneewittchens Mutter und Simone Weil. Jedes Kapitel liefert neue visuelle Einfälle, theoretische Ansätze und Inspirationen, stimmt nachdenklich und heiter.
„Im Spiegelsaal“ ist nach dem Überraschungserfolg von „Der Ursprung der Welt“ (den ich vor fünf Jahren für den Tagesspiegel rezensieren durfte) und den Folgewerken („Der Ursprung der Liebe“ im Jahr 2018, „I’m every woman“ in 2019 und „Ich fühl’s nicht“ in 2020) bereits der fünfte feministische Comic von Strömquist, der in deutscher Übersetzung vorliegt und der auch außerhalb der Comic-Bubble euphorisch rezipiert wird.
Es ist stark davon auszugehen, dass Strömquist das Material für weitere Werke so schnell nicht ausgeht: Strukturelle Ungleichheiten wurden in der Pandemie noch potenziert (und schon vorher gab es ja genug zu problematisieren). Ich freue mich auf Comic sechs und sieben und so weiter. Und vielleicht entdecken ja in der Zwischenzeit auch andere Comicschaffende das Potential des essayistischen Comics zur Vermittlung feministischer und anderer Themen: Wir brauchen definitiv mehr Strömquists im Comic-Segment!
Unsere Autorin Marie Schröer ist Kultur- und Literaturwissenschaftlerin sowie freie Kulturjournalistin. Seit 2020 hat sie die Juniorprofessur für Kultursemiotik und Kulturen romanischer Länder an der Universität Potsdam inne.