Regisseur Michael Gruner ist tot
Ein paarmal hat er Theatergeschichte geschrieben. Trotzdem ist der Name des Regisseurs und Schauspielers Michael Gruner keiner für die großen Schlagzeilen gewesen. Selbst als er an einer der spektakulärsten Premieren der alten Bundesrepublik mitwirkte.
Buchstäblich in vorderster Reihe nämlich rief der 21-jährige Gruner 1966 Peter Handkes legendäre „Publikumsbeschimpfung“ in die Welt: als „Sprecher 1“ der vier beatgruppenähnlich hinter Mikros an der Bühnenrampe postierten Akteure jenes alle traditionelle Dramatik travestierenden Handke-Debüts. Doch die namentliche Aufmerksamkeit galt damals dem Shooting Star Peter H. und dem Jungregisseur Claus Peymann, der das freche, für einen Publikumstumult sorgende „Sprechstück“ vor jetzt 55 Jahren am Frankfurter Theater am Turm inszeniert hatte.
Udo Samel spielte seine erste Hauptrolle bei Gruner
Eigentlich war der 1945 zu Beginn des letzten Kriegsjahres in Sachsen geborene, in Berlin und Frankfurt/Main aufgewachsene Michael Gruner ein eher ruhiger Mann. Von tiefer Neigung zur Literatur und hintergründigem Humor. Ein persönlich Bescheidener, den seine Schauspieler liebten. Ein früher Wegbegleiter war der Regisseur und Essayist Benjamin Korn, Anfang der 1970er Jahre Dramaturg bei Gruner, zuerst an der Frankfurter Schauspielschule und dann am Staatstheater Darmstadt bei Marieluise Fleißers „Pionieren in Ingolstadt“, mit dem jungen Udo Samel in seiner ersten Hauptrolle. Korn sagt: „Von Gruner konnten wir die größte Aufmerksamkeit für Texte und Schauspieler lernen, er war ein unheimlich genauer, nuancenreicher Leser und Beobachter.“
1983 war er zum Berliner Theatertreffen eingeladen
Als solcher hat Gruner in Frankfurt, Darmstadt, Düsseldorf, am Hamburger Thalia Theater, in Stuttgart, am Münchner Residenztheater, in Berlin und an den großen Wiener Bühnen inszeniert. Bis 2010 war er dann Schauspieldirektor in Dortmund. Gruner liebte Horváth, Barlach, Ibsen, Schnitzler, alle, die seinem Interesse für psychologische Feinheiten und Abgründe entgegenkamen. Doch hat er 1979 in Düsseldorf auch die späte Uraufführung von Else Lasker-Schülers expressivem, die Risse in Deutschlands Seele (von Faust bis Hitler) spiegelnden „IchundIch“ inszeniert oder er entdeckte Julien Greens zuvor nie gespieltes Stück „Einen Morgen gibt es nicht“. Mit seiner Düsseldorfer Version von Calderons „Das Leben ein Traum“ war er 1983 beim Berliner Theatertreffen.
Ein Höhepunkt wurde indes am Deutschen Theater Berlin 1994 Gruners so poetische wie gewitzte Inszenierung von Tankred Dorst schwarzer Komödie „Herr Paul“, mit der fabelhaften Paarung Kurt Böwe und Christine Schorn. Neben Marthalers „Murx!“ an der Volksbühne gehörte dies, jahrelang umjubelt, zu den originellsten Theaterbeiträgen zur deutschen Einheit. Zuletzt, während des Lockdowns, hatte Michael Gruner in Wien noch an Nino Haratschwilis „Der Herbst der Untertanen“ gearbeitet. Vor der auf Anfang 2022 verschobenen Premiere ist der stille große Theatermann nun vergangene Woche 76-jährig einem Krebsleiden erlegen.