Edelkitsch mit Hebefiguren
Beim Staatsballett Berlin ist alles im grünen Bereich. Das suggeriert der Ballettabend, der zwei Choreografien von David Dawson kombiniert. Die Uraufführung „Voices“ hat der britische Choreograf mit 14 Tänzerinnen und Tänzern des Ensembles erarbeitet: Bei der ersten Szene mit dem Titel „All Human“ postieren sich die Tänzer vor einem tannengrünen Hintergrund (Bühnenbild: Eno Henze). Einen helleren Grünton hat das Trikot von Gastsolistin Polina Semionova, die ihre Babypause vorzeitig beendete, um für eine Kollegin einzuspringen. Das Farbspiel ist natürlich kein Kommentar zu den Wahlen. Grün ist bekanntlich die Farbe der Hoffnung und „Voices“ will eine hoffnungsvolle Botschaft aussenden: Wir können die Welt zu einem besseren Ort machen, wenn wir es wollen.
Angeregt wurde David Dawson von Max Richters Komposition „Voices“, die auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 basiert. Richter hat die Stimmen von Menschen aus aller Welt mit Klängen verwoben. Die Musik ist von großen Pathos getragen. Zuerst ist die Stimme von Eleanor Roosevelt zu hören: „Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten geboren.“ Ein Satz, der man sich nicht oft genug in Erinnerung rufen kann.
Dawson ist gefragt bei den großen Companien
Dass sich Choreograf und Tänzer von der Vision einer besseren und gerechteren Welt haben beflügeln lassen, kann man nicht gerade behaupten. „Voices“ will ein erhebendes Werk sein – und driftet doch in den Kitsch ab. Immer wieder werden Gesten überhöht, Bewegungen schrauben sich ins Bedeutsame.
Dawson ist sehr gefragt bei den großen Ballettcompagnien. Er beherrscht das klassische Idiom, gibt ihm aber einen zeitgenössischen Anstrich. „Voices“ hat er während der Lockdown-Phase mit den Tänzern des Staatsballett erarbeitet. Die Choreografie ist zwar flüssig und geschmeidig, entwickelt manchmal sogar einen gewissen Drive, doch sie schnurrt ab ohne Beziehung zu den verlesenen Texten. Und auch in der räumlichen Organisation wirkt das Stück reichlich unstrukturiert.
Dawson ist sichtlich bestrebt, den Tänzern reichlich Futter zu geben. Gruppenszenen wechseln ab mit einem Solo, einem Duo oder einem Trio. Doch die Besetzung wirft Fragen auf: Bis auf die beiden japanischen Tänzerinnen Aya Okumura und Mari Kawanishi vertanzt hier ein rein weißes Ensemble die Erklärung der Menschenrechte. Ein vielstimmiges Manifest entsteht so nicht. Wenn es um die Vision eines humaneren Zusammenlebens geht, hätte man gern auch gesehen, wie die Tänzer zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen. Doch stattdessen werden konservative Geschlechterbilder aufgewärmt. Nur heterosexuelle Paare formieren sich während des Schlussbilds, die Frauen legen den Männern vertrauensvoll die Hand auf die Schulter.
Polina Semionova ist ein Lichtblick
Ein besonderes Faible hat David Dawson für Hebefiguren.Auf die Dauer ist das Ballerinen-Stemmen aber eher ermüdend. Einzig Polina Semionova ist ein Lichtblick, sie verleiht dem Tanz eine großen Ernsthaftigkeit, Wenn Alejandro Virelles sie am Ende in die Höhe hebt, mutet sie an wie eine Schutzpatronin. Sie legt die Hand an die Lippen und öffnet sie mit einer Geste in Richtung Publikum. Welches die Botschaft ist, kann sich jeder selbst zusammenreimen.
Eröffnet wird der Ballettabend mit dem Solo „Citizen Nowhere“, das David Dawson 2017 für Het Nationale Ballet Amsterdam kreiert hat, inspiriert von Antoine de Saint-Exupérys Erzählung „Der kleine Prinz“. Der Tänzer Olaf Kollmannsperger streckt zu Beginn den Arm gen Himmel. Immer wieder richtet sich der Blick nach oben, immer wieder breitet er die Arme aus wie Flügel.
Die Musik tendiert zum Süßlichen
Kollmannsperger ist eine markante Erscheinung, diesmal soll er vor allem das Streben nach dem Höheren verkörpern. Aus den Buchstabenschwärmen, die über die Leinwand tanzen, formieren sich einzelne Sätze. Auch die zentrale Aussage des Buches: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Die Musik von Szymon Brzoska tendiert aber zum Süßlichen. Wie auch das Video in Rotnuancen, in dem die Tänzerin Sasha Mukhamedov als „Rose“ auftritt. Dawson feiert in seinem Stück auch den Männerkörper, eine wirkliche Entwicklung lässt er seinen Protagonisten aber nicht durchlaufen. David Dawson will in seinem Ballettabend das Schöne und das Gute verbinden. Doch seine Choreografien tragen die Botschaften vor sich her, ohne ihnen überzeugend Ausdruck zu verleihen.