Wenn sich Erfolg im Musikbusiness berechnen lässt

Wo stehe ich in einem halben Jahr? Wie viel Geld werde ich mit welchem Song verdienen? Und was sind meine bereits veröffentlichten Tracks wert? Der Blick in die Zukunft ist für alle Musiker:innen wichtig. Für dieses unsichere Business hat der 2013 gegründete Schweizer Musikvertrieb iGroove die auf Künstlicher Intelligenz basierende Software Muse entwickelt. Sie offenbart erstaunliche Hellseherqualitäten.

Seit einem Jahr ist das Programm im Einsatz – die Trefferquote liegt bei bemerkenswerten 95 Prozent. Dass jüngst der Rapper Bushido zu iGroove gestoßen ist, passt zur Erfolgsgeschichte der auf 25 Angestellte angewachsenen Firma. 3000 Künstler:innen arbeiten mit iGroove inzwischen zusammen, darunter der Rapper Kollegah, der Österreicher Chakuza und Schweizer Mundartkünstler wie Lo & Leduc und Baze. Umsatzeinbußen gab es in der Coronapandemie bislang keine.

Eigentlich hat das Unternehmen die Software entwickelt, um genauere Zahlen für die Berechnung ihrer Vorschüsse zu erhalten. Rund 150 Kredite wurden bisher an Künstler ausgegeben, damit sie aufwendige Musikproduktionen bezahlen können. In den meisten Fällen wurde das Geld bereits zurückgezahlt, weil die Vorhersagen genau zugetroffen haben.

Innovation aus Pfäffikon

„Am Anfang haben wir noch vorsichtiger kalkuliert. Aber je mehr Berechnungen die KI gemacht hat, desto genauer wurden die Zahlen. So konnten wir immer mehr ins Risiko gehen. Mittlerweile können wir mit Angeboten von Major Labels mithalten“, sagt Moris Marchionna, einer der drei Gründer des in Pfäffikon ansässigen Unternehmens.

Seit Kurzem stellt iGroove die Software jedem seiner Künstler:innen über eine App zur Verfügung. Für eine einmalige Analyse kann Muse grundsätzlich jeder kostenlos nutzen. „Der Künstler muss jedoch eine gewisse Größe und Historie haben, damit uns genügend Daten für eine aussagekräftige Berechnung vorliegen.“

Einen ganz neuen Künstler, der erst ein paar Singles veröffentlicht hat, kann man noch nicht analysieren. Das prüft das Programm bereits in einer Vorselektion automatisch. Diese Analyse kann der Künstler auch nutzen, um bei einem anderen Label einen Vorschuss zu bekommen. Oder er kann ein bestehendes Angebot damit überprüfen“, sagt Marchionna.

Die “Historie” der Künstler wird analysiert

Wie die Software funktioniert, verraten die Macher nicht. Auf jeden Fall werden die Streamingzahlen eines Künstlers detailliert analysiert: In welchen Ländern erzielt er wie viele Abrufe, welche Songs sind in Playlists zu finden, welche Zielgruppe erreicht er, mit welchen Künstlern arbeitet er zusammen? Aus dieser Historie eines Künstlers wird so ein Blick in die Zukunft konstruiert. Die Vorhersagen stimmen laut Betreiber selbst bei Songs, die noch nicht geschrieben sind.

„Wir wollten etwas Neues machen, was es so in der Musikindustrie noch nicht gab. Deshalb entwickelten wir eine Plattform, auf der Künstler ihre Musik hochladen und die Fans sie dort ohne Zwischenhändler kaufen konnten“, erklärt Moris Marchionna, zusammen mit CEO Dennis Hausammann und Géraldine Allemann Gründer der Firma. „Die Künstler wollten trotzdem bei Spotify oder Itunes sein. So haben wir aus dem Shop einen vollwertigen Vertrieb gemacht.“

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Nur acht Prozent der digitalen Einnahmen sollten bei iGroove bleiben, 92 Prozent beim Künstler – ein Geschäftsmodell, das in den ersten Jahren allerdings noch nicht funktionierte. „Deshalb haben wir neben dem Vertrieb nach und nach andere Dienstleistungen angeboten, wie Promotion. Wir möchten nicht an der Musik der Künstler Geld verdienen, sondern an unserer Arbeit“, so Marchionna.

Für Udo Dahmen, den Leiter der Popakademie Mannheim, ist iGroove eine „interessante Plattform, die zukünftig an Bedeutung gewinnen könnte. Die zusätzlichen Marketing-Tools sind ebenfalls interessante Instrumente für Künstlerinnen und Künstler. Auch von Labels werden diese genutzt.“

Eine echte Marktlücke

Für Heiko Freund, den Leiter des Schwerpunkts Pop an der Zürcher Hochschule der Künste, füllt der Service eine echte Marktlücke. „Der Vorteil bei einem Aggregator wie iGroove besteht darin, dass man als independent artist auf den internationalen Plattformen präsent ist.“

Dennis Hausammann und Moris Marchionna sind selbst Musiker im HipHop-Bereich. Ihre Kompetenz und ihr Stilempfinden spielt aber für die Beurteilung der Musik ihrer Künstlerinnen und Künstler keine Rolle. „Ein Song muss qualitativ hochwertig und professionell aufgenommen und gemischt sein. Geschmacklich sind wir offen. Das Urteil liegt bei den Hörern.“ Nur gewaltverherrlichende oder rassistische Songs lehnen die Macher ab.

An Klassik trauen sie sich nicht heran

„Wir analysieren, was war und was kommen wird. Es wäre die Aufgabe eines Labels, einen Künstler aufzubauen und Zeit und Geld zu investieren, um später davon zu profitieren. Das ist nicht unser Metier. Wir sind eher wie eine Bank für den Künstler. Das Geld, das der Künstler nach unseren Berechnungen verdienen wird, können wir ihm auch jetzt schon zur Verfügung stellen“, so Marchionna.

Nur von der klassischen Musik lassen sie die Finger, weil es in diesem Genre in der Regel nicht um neue Kompositionen geht. Welche Beethovenaufnahme in der Zukunft wie oft gespielt wird, hat dann doch mehr mit der Medienpräsenz des Interpreten zu tun als mit genau analysierten Klickzahlen. Da hilft dann auch Muse nicht weiter.