Ukrainisches Kriegstagebuch (165): Unerwünschte Namensgeber

28.8.2023

Während meiner gesamten Schulzeit durfte ich nur zweimal mit der Zustimmung meiner Mutter fehlen – am Tag, als die Synagoge eröffnet wurde, und dann noch als Jewgeni Jewtuschenko im Jahr 1989 im Rahmen seiner Wahlkampagne in Charkiw auftrat.

Jewtuschenko galt als einer der erfolgreichsten sowjetischen Dichter der Sechziger-Jahre-Generation. Die Kritik an der Macht in einigen seiner Gedichte hielt ihn nicht davon ab, Buch um Buch zu veröffentlichen und häufig ins Ausland zu reisen. 

Von meinen Eltern hörte ich über seine Lesung im Jahre 1962, die am Theaterplatz in Charkiw vor dem Puschkin-Denkmal stattfand. Trotz der Kälte war der Dichter nicht zu stoppen und verlor schließlich seine Stimme. Plötzlich wurde ihm aus einem der umliegenden Häuser eine Thermoskanne mit warmer Milch herabgelassen, und die Lesung konnte fortgesetzt werden.

1989, mitten in der Perestroika, wurde Jewtuschenko von einer Initiative in Charkiw als Kandidat für das Amt des Volksabgeordneten der UdSSR nominiert. Kurz vor den Wahlen fand am selben Ort wieder eine Lesung statt. Ich war dabei und kann bestätigen – Jewtuschenko wurde wie ein Rockstar empfangen, es war rappelvoll, und nach beinahe jedem Satz brach euphorischer Applaus aus. Auch die magische Thermoskanne mit warmer Milch ist auf mysteriöse Weise wieder aufgetaucht.

Das M-Art Studio, wo wir im frühen August aufgenommen haben, befindet sich nur wenige Minuten zu Fuß vom Theaterplatz entfernt. An einem Abend begleiteten Serhij Zhadan und ich Irena Karpa dorthin, um uns die neue Open-Air-Ausstellung anzusehen, die vom Literaturmuseum gestaltet wurde. Serhij erzählte Irena die Geschichte von Jewtuschenko und der Thermoskanne mit der warmen Milch, die inzwischen zu einer städtischen Legende geworden ist. 

Die Ausstellung trägt den Titel „Eigennamen“ und widmet sich den hochaktuellen Themen – der Erinnerung und der Stadtgeschichte. Die Kuratoren stellen Fragen nach den Namensgebern unserer Straßen und Parks. Wie geht es uns zurzeit damit? Gorki, Lermontov, Puschkin – welche Verbindung haben sie zu unserer Stadt? 

Die Zusammenfassung, die auf sich drehenden metallischen Ständen nachzulesen ist, verblüfft den Besucher, da oft jeglicher Bezug dieser Personen zu Charkiw fehlt. Gelegentlich äußerten sie auch Bemerkungen über die Stadt und ihre Bewohner, die sie hier normalerweise weniger beliebt gemacht hätten. 

Von der anderen Seite, lebten in Charkiw zahlreiche bedeutsame Persönlichkeiten, die einen weitaus größeren Einfluss auf die lokale Geschichte ausübten – von Hryhorij Skovoroda, dem Vater der ukrainischen Philosophie, bis zu Dutzenden Vertretern der Hingerichteten Renaissance. Warum findet man ihre Namen nicht, wenn man auf den Stadtplan schaut? 

Die Pressemitteilung des Literaturmuseums betont, dass die Ausstellung einen aktiven Austausch mit den Bürgern anregen sollte. Tatsächlich kann man sagen, dass ein Dialog im Gange ist – bereits in der ersten Woche nach der Eröffnung wurden die Ständer mit Graffiti beschmiert. „Iss Scheiße!“, „Ukrainer schwul“ und „Schlag den Ukrainer, rette die Ukraine“. Das Letztere erweist sich als fantasielose Abwandlung eines früheren Slogans: „Schlag den Juden, rette russland“. 

Ein merkwürdiges Gefühl überkommt mich, während ich die Ständer drehe und die Texte der Kuratoren sowie die Graffiti lese. Vor meinen Augen entfalten sich zwei Welten, die in derselben Stadt existieren. Was hat diese anonymen Graffiti-Künstler so getriggert? Anhand ihres Stils und ihrer Grammatik lässt sich vermuten, dass sie keine enthusiastischen Anhänger der russischen Kultur oder Kultur im Allgemeinen sind. Offensichtlich fühlen sie sich von der ukrainischen Geschichte ihrer Stadt bedroht… wie stellen sie sich die Zukunft Charkiws vor, frage ich mich – und finde keine Antwort.