Ukrainisches Kriegstagebuch (136): Charkiw in Leipzig

17.5.23
Ich habe immer geglaubt, dass die Wahrscheinlichkeit, zufällig einen Bekannten in Leipzig zu treffen, eher gering ist – und die Chancen, dass ich diese Person bereits seit 35 Jahren kenne, bei Null liegen. Bis ich heute Nachmittag Igor Magrilov traf.

Nach der Probe lasse ich meine Gitarre in der Pension, wo ich diese Woche wohne, und möchte um die Ecke in der Karl-Heine-Straße etwas essen. Dort mache ich zuerst ein Foto von der Fassade der Schaubühne Lindenfels und maile es Anastasiia Kosodii, ich möchte, dass sie das große, über dem Haupteingang hängende Banner vom Theater der Dramaturgen sieht, einem Kiewer Theater, das sie mitbegründet hat. Die Schaubühne organisiert seit Mai 2022 in ihren Räumen szenische Lesungen mit Texten ukrainischer Dramatiker*innen.

Auf dem Plakat vor dem Eingang wird ein Gastspiel mit dem Titel „Theater Mariupol“ angekündigt. Daneben, auf der Terrasse sitzen schöne Menschen mit bunten Getränken, das Wetter ist perfekt, es sind 21 Grad, die Sonne scheint und aus den Boxen kommt „Killing Me Softly“.

Einen Block weiter kaufe ich mir Falafel und setze mich auf die Bank, als ich plötzlich ein überraschtes „Yuraaa???“ höre und sehe, wie Igor Magrilov mit weit ausgebreiteten Armen auf mich zukommt. Er umarmt mich und meine Falafel, wir lachen.

Igor lebt seit 2003 in Berlin, aber in Leipzig wohnt seine Mutter, die er diese Woche besucht, um mit ihr seinen Geburtstag zu feiern, am 15. Mai ist er 63 geworden… wirklich? Schwer zu glauben, nach all den Jahren hat er sich kaum verändert, finde ich.

Kennengelernt haben wir uns in den späten Achtzigern in Charkiw, ich habe für die Kinder- und Jugendzeitung „Ba-Bakh!!!“ geschrieben, die Igor leitete. Damals hatte er die undankbare Aufgabe, seine frechen jungen Autoren zu organisieren, was ihm jahrelang wunderbar gelungen ist. Er war für uns alle wie ein älterer Bruder. Nach „Ba-Bakh!!!“, schon in den Neunziger, war er Chefredakteur bei „Telenedelia“, einer viel größeren, wöchentlichen Zeitung.

Als ich Igor frage, ob er vorhat, zum Konzert von Zhadan & Sobaky zu gehen, wirkt er überrascht – er hat nicht mitbekommen, dass die Jungs heute Abend in Leipzig spielen. Aber eineinhalb Stunden später steht er vor dem Felsenkeller mit seiner Kamera und möchte den Auftritt für berlin-visual.com filmen. Seit 14 Jahren betreut er diese Webseite, die am Anfang Nicht-Berlinern über Berlin erzählte, in den letzten Jahren aber immer mehr über ukrainische Themen berichtet.

Oleksandr „Kolmen“ Serdiuk mit einem der Auktionsgegenstände.
Oleksandr „Kolmen“ Serdiuk mit einem der Auktionsgegenstände.
© Yuriy Gurzhy

Die geräumige Künstlergarderobe ist für Sobaky zu klein – auf ihrer europäischen Tour ist die achtköpfige Band mit einem Fahrer und drei Technikern unterwegs. Außerdem ist der legendäre Stand Up Comedian Oleksandr „Kolmen“ Serdiuk dabei. Auf der Bühne erscheint er als Erster, und zwar im albernen Kostüm, das am Ende versteigert wird – eine lila Soutane mit Schmetterlingsflügeln auf dem Rücken, eine Krawatte, eine regenbogenfarbene Perücke.

Während des Konzerts gesellt er sich noch einige Male zu Band, um mitzusingen, einen Witz zu erzählen, aber vor allem, um etwas zu versteigern. Zhadans Bücher mit Autogrammen, sein Porträt mit dem Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte Salushny… Von den Auktionseinnnahmen werden anschließend Autos und Drohnen für die Front gekauft.

Ich bin eingeladen, bei einem der Songs mitzumachen. Auf die Bühne kommen auch noch der Fahrer der Band, der eigentlich ein Abgeordneter des Charkiwer Stadtrats ist, und die Mutter von Kolmen, die aus Charkiw fliehen musste und in Bayern gelandet ist. Mit all den Gästen wirkt die Band auf dieser Tour wie ein Zirkus – in anderen Zeiten hätten sie perfekt in die Verfilmung eines der früheren Romane von Zhadan gepasst.

Eine Frau aus dem Publikum fragt mich, ob ich ein Foto, das sie in den Händen hält, von Zhadan unterschreiben lassen kann. Auf dem Bild steht Serhij neben einem Mann in Militäruniform. „Mein Ehemann“, sagt sie. „Es war das letzte Konzert von Sobaky in Mariupol. Seit einem Jahr ist er schon in russischer Gefangenschaft.”