Thomas Müller und dieser Ausgerechnet-Moment

Manchmal verdichtet sich ein Fußballspiel auf einen einzigen Moment. Und manchmal auch eine ganze Karriere.

Frank Mill war zu seiner Zeit einer der besten Stürmer der Bundesliga. Er war Nationalspieler, hat 1988 Olympia-Bronze gewonnen und gehörte 1990 zum deutschen Kader, der in Italien Weltmeister wurde. Heute aber, viele, viele Jahre später, ist er vor allem durch eine spektakulär vergebene Torchance in Erinnerung geblieben: als er in seinem ersten Spiel für Borussia Dortmund nur noch das leere Tor des FC Bayern München vor sich hatte, sich irgendwie mit seinen Füßen verhedderte und den Ball an den Pfosten setzte.

Wenn man in vielen Jahren an den grandiosen Stürmer Thomas Müller zurückdenkt, dann wird man von ihm vermutlich vor allem Bilder mit goldenen und silbernen Pokalen vor Augen haben. Man wird an die WM 2014 denken, bei der er – anders als der Tribünenhocker Mill 1990 – eine tragende Rolle hatte. Vielleicht werden sich einige auch noch an seine unorthodoxen Bewegungen erinnern, an sein spezielles Raumgefühl und an sein lockeres Mundwerk. Aber zu seinem Lebenslauf wird künftig eben auch dieser eine Moment gehören: EM-Achtelfinale England gegen Deutschland, Wembley, die 81. Minute.

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„Da war er, dieser eine Moment, der dir am Ende in Erinnerung bleibt, der dich nachts um den Schlaf bringt“, hat Müller irgendwann in dieser schlaflosen Nacht seinem Instagram-Account anvertraut. „Dieser Moment, wenn du es alleine in der Hand hast, deine Mannschaft in ein enges K.-o.-Spiel zurückzubringen und eine ganze Fußballnation in Ekstase zu versetzen. Diese Möglichkeit zu bekommen und sie dann ungenutzt zu lassen, tut mir verdammt weh.“

Die schlaflose Nacht begann in London, und sie endete in Herzogenaurach. Damit waren die Koordinaten einer unrühmlichen Europameisterschaft perfekt umrissen. Einer unrühmlichen Europameisterschaft für die deutsche Nationalmannschaft. Für ihren Bundestrainer Joachim Löw. Und ja, auch für Thomas Müller. Provinz statt Metropole.

Wie so oft im Fußball hätte es natürlich auch ganz anders laufen können. Fünf Minuten, nachdem die Deutschen gegen die keineswegs übermächtigen Engländer in Rückstand geraten waren, eröffnete sich ihnen eine unverhoffte Chance auf den Ausgleich. Raheem Sterling, dem Schützen des Führungstores, unterlief ein unfassbarer Fehlpass. Kai Havertz erwischte die sonst so übervorsichtige englische Defensive in einem kurzen Moment der Auflösung. Er schickte Thomas Müller auf die Reise, der nur noch das perfekt getrimmte englische Grün vor sich hatte – und den bemitleidenswerten Torwart Jordan Pickford.

Ausgerechnet Müller, den Löw so lange ignoriert hatte

Es war einer dieser Ausgerechnet-Momente. Ausgerechnet Müller, den der Bundestrainer so lange ignoriert hatte. Den er für die EM und auf massiven öffentlichen Druck dann doch noch begnadigt hatte. Ausgerechnet Müller, der bei Weltmeisterschaften Tor um Tor erzielt hat (zumindest bei den ersten beiden seiner drei WM-Teilnahmen), der aber in nun 15 EM-Spielen noch kein einziges Mal getroffen hatte. Könnte es einen besseren Moment für seine Torpremiere bei einer Europameisterschaft geben als: EM-Achtelfinale England gegen Deutschland, Wembley, die 81. Minute?

Was wäre das für eine Geschichte gewesen! Kurz vor der Pause hatte Mats Hummels die Deutschen mit einer Grätsche vor dem frühen Rückstand bewahrt. Der zweite Rückkehrer, den Löw so lange außen vor gelassen hatte. Und dann erzielt auch noch Müller – ausgerechnet Müller – den späten Ausgleich, rettet die Deutschen ins Elfmeterschießen. Den Rest kann man sich denken.

Der verhängnisvolle Moment. Thomas Müller schießt knapp am englischen Tor vorbei.Foto: REUTERS/Matthew Childs

Müller zielte mit dem rechten Fuß nach links. Der Anstellwinkel war nicht gut. Der Ball flog knapp am linken Pfosten vorbei ins Toraus. „Das muss man halt auch mal akzeptieren“, sagte Löw über die spektakulär vergebene Torchance.

Vielleicht war die EM Müllers letztes Turnier

Besser als mit diesem Fehlschuss hätte man die letzten drei der insgesamt fünfzehn Jahre von Joachim Löw als Bundestrainer gar nicht zusammenfassen können: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Nach dem Debakel bei der WM 2018 hat sich Löw irgendwie im Amt halten können, er hat natürlich auch von der Inkompetenz im Deutschen Fußball-Bund profitiert, von persönlichen Vorlieben der Verbandsführung. Und er wollte wiedergutmachen, was er verbockt hatte. Das konnte nicht gutgehen.

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Thomas Müller wird im Herbst 32. Vielleicht war die EM sein letztes Turnier. Auch Müller hat es daher noch einmal wissen wollen. Er hat die Nominierung für das Turnier nicht nur als Anerkennung für seine starken Leistungen beim FC Bayern München verstanden, sondern auch als Verpflichtung, dem Bundestrainer etwas zurückzugeben. Bei den öffentlichen Auftritten gab er sich ernst und seriös wie selten, eher wie ein Politiker, der kein falsches Wort sagen will, als wie der bayrische Naturbursche, der drauflos brabbelt, wie es ihm gerade in den Sinn kommt. Thomas Müller wollte den Bundestrainer nicht enttäuschen. Und tat es am Ende doch.

Joachim Löw und Thomas Müller, sie haben die Geister der Vergangenheit nicht vertreiben können. Die WM 2018 hat auch in Wembley mitgespielt. Die Erinnerung an das gemeinsame Scheitern. Den Deutschen fehlte bei aller nötigen Ernsthaftigkeit auch die Lockerheit, die man für ein erfolgreiches Turnier benötigt. Die ganzen drei Jahre seit dem Debakel in Russland hatten etwas Angestrengtes und allzu sehr Bemühtes. Sie verdichteten sich am Dienstagabend im rechten Fuß von Thomas Müller. Im EM-Achtelfinale England gegen Deutschland, in Wembley, in der 81. Minute.