Sollte man empörende Stellen wirklich aus Büchern streichen?
Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter:@Brinkbaeumer
Die Szene ist ausgedacht, es sind ausgedachte Figuren, die hier sprechen, und sie artikulieren ausgedachte Gedanken. Selten verwende ich ein Wort dreimal in einem Satz, „ausgedacht“ aber ist wichtig: Das Buch ist ein Roman, und die ausgedachte Szene hat eine Funktion in dieser Geschichte, Gleiches gilt für die Figuren.
In „Golden Girls“, verfasst von Elin Hilderbrand und veröffentlicht vom Verlag „Little, Brown and Company“, giggeln und plappern die Teenager Vivian und Savannah auf Nantucket, einer (das weiß ich aus dem wirklichen Leben) beglückend bunt leuchtenden Insel vor Amerikas Ostküste. Es geht darum, ob sich Vivian auf dem Dachboden des Hauses von Savannahs Eltern einrichten solle. Vivian sagt: „Meinst du, ich soll mich hier den ganzen Sommer lang verstecken? Wie … wie Anne Frank?“ Und die Erzählerin fügt an: „Das lässt sie beide lachen, aber ist es wirklich lustig, und hat Vivi so unrecht?“
Mehr passiert nicht; na ja, im Roman nicht, im wirklichen Leben dann schon. Auf Instagram begann es, mit dem Begriff „beiläufiger Antisemitismus“. Die Leserin Cecile Leana berichtete von 18 Familienmitgliedern, die im Holocaust ermordet worden sind, und nannte die Szene „unentschuldbar“. Es wurde lauter, es wurde wuchtiger, Forderungen an den Verlag kamen hinzu: Stoppt die Autorin!
Und darum meldete sich Elin Hilderbrand, die dort, auf Nantucket, lebt und entschuldigte sich. Das Zitat sei zwar nicht gedankenlos in den Text gefallen, sagte sie, es habe nämlich die abgehobene Vivian zeigen und zugleich ausdrücken sollen, wie sehr diese sich isoliert fühle. „Aber es war verletzend und geschmacklos“, so Hilderbrand. Sie habe ihre Verleger gebeten, das Zitat sofort aus dem E-Buch und anschließend aus allen künftigen Auflagen zu streichen.
Und was lernen wir nun?
Wir plädieren erst einmal für Ein- und Ausatmen; dafür, nicht jeden flott hingeschriebenen Instagram-Kommentar ebenso flott auch zu senden.
Und dann plädieren wir für das, was heutzutage „Abschichten“ genannt wird. Dreierlei: Es sollte im Jahr 2021 und schon auch künftig eine Trennung zwischen Wahrheit und Dichtung, Journalismus und Fiktion und sogar zwischen Werk und Verfasser oder Verfasserin geben. Jahrelang recherchierte Blake Bailey eine Biografie des Schriftstellers Philip Roth, und zur Recherche zählten Gespräche und Zugang zu Notizen, Manuskripten und Briefen.
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Als Bailey sexuelle Belästigung vorgeworfen wurde (mehrfach und glaubhaft, wenngleich von ihm dementiert), zog der Verlag W. W. Norton das Buch zurück. Richtig? Falsch. Niemand muss Bailey mögen, niemand muss „Philip Roth“ lesen. Aber es muss existieren dürfen. (Wird es auch, der kleine Verlag Skyhorse bringt es neu heraus.)
Meinungsfreiheit sollte, immer noch, bedeuten, dass alles gedacht und gesagt werden darf, was innerhalb rechtlicher Grenzen liegt; die Leugnung des Holocaust ist zurecht strafbar, Antisemitismus, Misogynie oder Rassismus sind im öffentlichen Diskus zurecht tabuisiert. In Deutschland existiert diese Meinungsfreiheit, und sie schließt ein, dass wir mit Gegenargumenten rechnen sollten – Widerspruch, inklusive Spott, ist anstrengend, aber etwas durchaus anderes als Sprechverbote.
Die Freiheit der Kunst wiederum muss, noch immer, bedeuten, dass Diabolisches, Grausames, Empörendes formuliert werden kann. Wäre es anders, hätte Shakespeare nichts zu schreiben gehabt, könnte der Sklavenjäger Ridgeway in „Underground Railroad“ nicht existieren, es gäbe keine Nazis in der Fiktion, es gäbe „Krieg und Frieden“ nicht, und ohne Ahab kein „Moby Dick“.
Eine Autorin und ihr Verlag übrigens sollten für diese eigenen Freiheiten einstehen. Ansonsten werden die nicht mehr lange existieren.