Rabbit-Hole in Lack und Leder: Ganz große Berliner Bühne für internationale Drag Queens

Ein wenig ungläubig wirkte Miss Vanjie am Sonntagabend schon, als tausende Menschen ihren Namen schrien. Auf der Bühne ließ die US-amerikanische Drag Queen ihre Hüften zu „Bad Guy“ von Billie Eilish kreisen und warf die langen blonden Haare ihrer Perücke zurück. Dabei trug sie einen hautengen Body in Metallic-Optik und silberglänzende Stiefel. Vom Publikum gab es tosenden Applaus.

Noch vor ein paar Jahren wäre dieser Moment schwer vorstellbar gewesen. Zum einen, weil Drag-Kultur weit weniger sichtbar war und eine solche Show wohl kaum in der Mercedes-Benz-Arena stattgefunden hätte. Zum anderen, weil Miss Vanjie, die sich eigentlich Vanessa Vanjie Mateo nennt, bei ihrem ersten großen Auftritt keinen besonders erfolgreichen Start hinlegte: Im Jahr 2018 flog sie gleich in der ersten Folge der US-amerikanischen Show RuPaul’s Drag Race raus. Dort wird seit 2009 jedes Jahr die beste Queen der USA gekürt – die Show hat einen großen Anteil daran, dass Drag mittlerweile auch ein breiteres internationales Publikum erreicht.

Doch mit dem frühen Ausscheiden endete Vanjies Karriere nicht, ganz im Gegenteil. Mit ihrem humorvollen Abgang und ihren scharfsinnigen Witzen schaffte sie es sogar in andere TV-Formate. Mittlerweile gehört sie zu den bekanntesten Queens weltweit und tourt gemeinsam mit anderen ehemaligen Teilnehmerinnen wie Kandy Muse, Daya Betty und Ginger Minj im Rahmen der „Werq the World Tour“ durch ganz Europa.

Vanessa Vanjie Mateo war bereits bei mehreren „Werq the World“-Shows zu sehen.
Vanessa Vanjie Mateo war bereits bei mehreren „Werq the World“-Shows zu sehen.

© IMAGO/ZUMA Wire

Dort nehmen sie die Zuschauenden mit auf eine Science-Fiction-Reise, die an den Film „Matrix“ angelehnt ist. Gleich zu Beginn erhält Aquaria, Gewinnerin der zehnten Staffel von „RuPaul’s Drag Race“ eine Mail, in der ihr mitgeteilt wird, dass sie in einer Simulation lebt. Sie wird aufgefordert, dem weißen Kaninchen zu folgen. Die eigentliche Handlung gerät allerdings schnell in den Hintergrund, wenn die Queens in futuristischen Lack- und Lederoutfits tanzen und lipsyncen, also ihre Lippen zur Musik von Ariana Grande, Beyoncé und Madonna bewegen.

In der bis ins kleinste Detail orchestrierten Show bleibt zwar wenig Raum für Witze auf Kosten der anderen Queens und selbstironische Kommentare, wie es bei RuPaul’s Drag Race eigentlich üblich ist. Dafür bringen Queens aus dem deutschsprachigen Raum frischen Wind rein, denn bei der diesjährigen Tour legen die Veranstalter*innen besonderen Wert darauf, lokale Künstler*innen einzubinden.

In Berlin traten Teilnehmerinnen von „Drag Race Germany“ auf, dem deutschen Ableger, der derzeit auf der Streamingplattform Paramount+ ausgestrahlt wird. Dort dürfen Teilnehmerinnen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich ihr Talent unter Beweis stellen und sich in Kategorien wie Entertainment, Mode und Tanzen miteinander messen.

Die Top-Vier performten am Sonntag zu einem Song ihrer Wahl. Mit dabei war Pandora Nox aus Wien, eine Person, die sich auch außerhalb von Drag als Frau identifiziert und beeindruckende akrobatische Kunststücke wie Spagat, Handstand und Salto vorführte. Denn längst ist Drag Race nicht nur schwulen Männern vorbehalten, sondern auch trans Personen und cisgeschlechtliche Frauen wie Pandora sind dabei.

Für einen Überraschungsmoment sorgte überdies Kelly Heelton. Sie war die einzige Queen, die sang, anstatt nur die Lippen zur Musik zu bewegen. Und sie war es auch, die auf die politische Dimension von Drag Kultur aufmerksam machte, als sie sagte: „Drag ist kein Verbrechen.“ Dabei spielte sie nicht zuletzt auf die USA an, wo zuletzt zahlreiche Gesetze verabschiedet wurden, die Performer*innen Restriktionen auferlegen oder Shows gänzlich verbieten.

Umso bewegender war der Moment, als am Ende des Abends alle Queens gemeinsam die Bühne betraten und zum Song „I’m a Survivor“ performten. Als sich auch die Zuschauenden von ihren Plätzen erhoben und tanzten, fiel kaum auf, dass die Halle nicht gefüllt war. Und vielleicht ändert sich das bei der nächsten „Werq the World Tour“, wenn die deutschen Queens erst einmal so viel Reichweite erlangt haben wie Vanjie oder Aquaria.