Mit veränderter Perspektive ins Crucible Theatre

Mark Selby war ein paar Tage zu Hause in Leicester. Das ist möglich bei einer Snooker-WM, in der zwischen den einzelnen Spielen schon mal fast eine Woche liegen kann. Der Weltmeister hatte sein Auftaktmatch in Sheffield am vergangenen Samstag gegen Jamie Jones aus Wales 10:7 gewonnen, erst am Freitag beginnt das Achtelfinale gegen den Chinesen Yan Bingtao. Selby nutzte die Zeit, um ein bisschen zu entspannen und zu trainieren. Dazu stand am Mittwoch ein weiterer wichtiger Termin für ihn an – ein Besuch bei seinem Psychologen.

Im Januar hatte der 38-Jährige von mentalen Problemen berichtet, die ihn schon lange begleiten würden. Vor allem der Tod seines Vaters sei ein Schicksalsschlag gewesen, weil der ihn nie habe als Profi am Snookertisch spielen sehen können. Viermal wurde der Engländer trotzdem Weltmeister, zuletzt im vergangenen Jahr.

Die Titelverteidigung war allerdings lange Zeit fraglich, wie er nach dem ersten Spiel noch einmal erklärte: „Ich hatte mir zuletzt eine Auszeit für ein paar Wochen genommen und war mir nicht sicher, ob ich bei der WM antreten soll“, erzählte er und ergänzte: „Ich liebe dieses Spiel, aber in so einer mentalen Verfassung zu sein, macht es nicht leicht.“ Dass er sein Erstrunden-Duell gewinnen konnte, sei in gewisser Weise „irrelevant“, denn es für ihn wäre viel wichtiger gewesen, es einfach zu genießen, wieder am Tisch zu stehen.

Von den Fans war Selby mit großem Applaus empfangen worden, die Zuschauer im Crucible Theatre bewiesen ein gutes Gespür für die Verfassung, in der sich der Champion derzeit befindet. „Diese Ovationen zu bekommen, war wunderbar“, sagte Selby. Weniger schön waren die Dinge, die er zuvor in dieser Saison erleben musste. „Sehr oft habe ich gespielt, ohne Freude dabei zu verspüren. So sehr ich Snooker mag, ist es doch schwer, wenn es dir nicht gut geht“, sagte er nun.

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Dass Selby in den vergangenen acht Jahren dennoch der erfolgreichste Spieler bei WM-Turnieren war, beeindruckt angesichts seiner Probleme umso mehr. Schon beim Titelgewinn 2016 sei es ihm nicht gut gegangen, wie er jetzt noch einmal berichtete: „Es war seltsam in jenem Jahr. Ich hätte die beste Zeit meines Lebens haben sollen, doch als ich die Trophäe erhielt, fühlte ich mich völlig emotionslos. Ich starrte einfach ins Leere.“

Selby berichtete davon, dass er sich in das Spiel geflüchtet habe, als sein Vater starb. „Ich hatte nur Snooker und sonst nichts. Er war meine ganze Familie.“ Snooker sei zu einer Art Kuscheldecke geworden, in die sich Selby habe einhüllen können. Er habe dem Sport alles untergeordnet, weil es das war, was für ihn am bequemsten gewesen sei. Mit dramatischen Folgen für seine Gesundheit.

Zuletzt sei es immer schwieriger für ihn geworden, sich auf das Spiel zu konzentrieren. „Wenn ich am Tisch stand, musste ich Dinge durchdenken und mein Kopf war mit dem nächsten Stoß beschäftigt. Aber auf dem Stuhl begann das Kopfkino und ich dachte über alles andere nach.“

Im Notfall kann er seinem behandelnden Arzt eine Whats-App-Nachricht schicken

Inzwischen gehe es ihm besser, die Sitzungen mit dem Psychologen hätten einiges bewirkt. Er habe einen Tagesablauf, an den er sich halte, wozu auch gehöre, sich Dinge von der Seele zu schreiben. „Jeden Morgen notiere ich, was ich heute tun werde und mache es dann auch. Und ich schreibe Dinge über die Vergangenheit und meinen Vater, was mir nicht leichtfällt.“

Auch jetzt, während der WM, müsse er sich jeden Tag überwinden, „aber ich bekomme viel Unterstützung von meiner Frau Vikki, der Familie – und jetzt auch durch den Arzt“, sagte Selby und sprach von einer veränderten Perspektive, mit der er in diesem Jahr im Crucible spielt. Sollte es ihm dabei doch einmal wieder schlecht gehen, dann habe er jemanden, „dem ich eine Nachricht schicken kann.“

Es ist eine neue Gewissheit für Mark Selby, dass es im Leben nicht mehr nur um Sieg und Niederlage im Snooker geht. Denn sogar für einen vierfachen Weltmeister kann das geliebte Spiel zur Nebensache werden.