Mein Chef ist eine Nase
Die eigene Nase zu verlieren – auch ohne Schmerz und Blut – heißt, die Identität zu verlieren. Entsprechend verzweifelt rennt der Petersburger Beamte Kowaljow seiner Nase hinterher, die sich inzwischen als Staatsrat selbstständig gemacht hat und ihm damit vorgesetzt scheint. In seiner Verzweiflung über den Ausschluss aus der Gesellschaft erntet er nur Hohn und Gleichgültigkeit.
Dmitri Schostakowitsch machte aus Nikolai Gogols Novelle „Die Nase“ 1928 seine erste Oper und stellte sie mit dem kräftigen Selbstbewusstsein eines 22-Jährigen einer nach künstlerischer wie politischer Neuerung dürstenden Gesellschaft zur Diskussion. Doch schon im Rückbezug auf Gogols Geburtsstück des Surrealismus vermuteten die Machthaber nicht zu Unrecht die Flucht vor gerade untypischen Stoffen der sowjetischen Oper und kritisierten an der „Nase“ deshalb auch das Fehlen eines positiven Helden. Folgerichtig ging „Die Nase“ auch deswegen ins internationale Repertoire ein, weil sie 44 Jahre lang das Schicksal der „Lady Macbeth von Mzensk“ teilte, staatlich unterdrückt zu werden.
In Dresden war die Oper zuletzt 1986 zu sehen
In Dresden war die Oper zuletzt 1986 in der Regie von Joachim Herz zu sehen. Jetzt holt sie Starregisseur Peter Konwitschny wieder auf die Semperbühne. Die teilt sein Bühnen- und Kostümbildner Helmut Brade in ein Schachbrettmuster auf, aus dem die einzelnen, filmschnittartigen Szenen mit einem gehörigen Aufwand an Bühnenmaschinerie auf- und wieder abtauchen können.
Das ist denn auch der erste Hinweis auf Konwitschnys Lesart: Alle seine Protagonisten sind Schachfiguren, die von der irrwitzigen Geschichte mehr getrieben sind, als sie selbst voranzutreiben. Allgegenwärtig ist dabei die im Original aus Selbstschutzgründen nur angedeutete Geheimpolizei, die auch dem leisesten Verdacht schon schwerste Konsequenzen folgen lässt.
Bariton Bo Skovhus begeistert mit einer Glanzleistung
Bo Skovhus singt und mimt den Entnasten mit geradezu athletischer Atemlosigkeit, wodurch seine wandelbare Stimme allerdings manchmal vom Orchester zugedeckt wird. Sein Kowaljow rennt, tanzt und springt über Hürden, offenbart aber wenig intellektuelle Stärke – eine Glanzleistung des dänischen Baritons. Ebenso wie die anderen Figuren wirken die Geheimpolizisten, die Schostakowitsch mit irrwitzig hohen Tönen der Lächerlichkeit preisgibt, als höchst passgenaue Rädchen im Getriebe, deren Hauptaufgabe nicht das eigene Denken, sondern das Funktionieren ist.
Schostakowitschs starke ernste Musik ist vielleicht das erste Zeugnis seiner genialen Künstlerpersönlichkeit. Und er hat einen guten Fürsprecher: Am Pult der Sächsischen Staatskapelle legt Petr Popelka alle Kraft in die Aufgabe, dieser Musik zu ihrem Recht zu verhelfen: mit punktgenauen, brutalen Einwürfen, stupenden Blechbläser-Glissandi, irrational schnellen Streicherläufen. Wenngleich in der Phonstärke manchmal etwas zu überambitioniert, erzählt Popelka hier mit der Musik, was Schostakowitsch gut verklausuliert messerscharf diagnostiziert hat (wieder am 7., 10. und 13. Juli).
Konwitschny lässt die geniale Musik sprechen
Nun ist die Groteske vielleicht das probateste Mittel, um auf eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, zu reagieren. Konwitschny reduziert das Bühnengeschehen also auf ein paar szenenbildnerische Andeutungen, lässt ansonsten Text und die geniale Musik Schostakowitschs sprechen. Seinen Antihelden Kowaljow bemitleidet er nicht, aber er gibt ihn auch nicht der Lächerlichkeit preis: So wie sehr viele Opfer eines despotischen Systems gerät der Beamte eher zufällig in den Fokus der überall Feindlichkeit witternden Staatsräson und trägt als einziger seine natürliche Nase, während alle anderen rote Clownsnasen haben.
Dieses naheliegende, aber sehr überzeugende Bild vermittelt schnell, dass der Diskurs darüber, was „richtig“ und „normal“ sei, letztlich ebenso zufällig ist wie jede positivistische Ordnung. Konwitschny unterstreicht diesen Aspekt dadurch, dass er die zweite Hälfte des Abends nach einem hinzuerfundenen Selbstmord Kowaljows in ein nicht zufällig blau-gelb grundiertes Himmelsparadies verlegt, wo aber auch selbst Gott, Jesus und Teufel nicht bei der Rehabilitierung zum Menschen helfen können, sondern nur der schnöde Mammon und der Konsumismus regieren. Die Nase kehrt quasi von selbst zurück, aber die wiederhergestellte „Ordnung“ bleibt Behauptung.