Manga-Klassiker „Barfuß durch Hiroshima“: Heller als tausend Sonnen

Der kleine Keiji Nakazawa war auf dem Weg zur Schule, als ihn der Feuerball traf. Ein gleißend heller Blitz raste am Morgen des 6. August 1945 um kurz nach acht Uhr auf ihn zu. „Ich weiß noch, dass es in der Mitte schneeweiß war, drum herum blauweiß und weiter außen orangerot. Ich sah den Blitz einen Moment lang vor mir, danach weiß ich nichts mehr.“

Der Sechsjährige hatte Glück. Er betrat gerade seine Schule in der japanischen Stadt Hiroshima, die Mauern waren seine Rettung. „Wenn ich nur einen Moment früher durch das Schultor getreten wäre, säße ich jetzt nicht hier“, berichtete er fünfzig Jahre später in einem Interview.

Als Keiji Nakazawa wieder zu sich kam, lag die Mutter eines Klassenkameraden, mit der er kurz zuvor gesprochen hatte, verbrannt neben ihm. Nackte Frauen kamen ihm entgegen, die übersät waren mit Glassplittern. Am Straßenrand lagen verkohlte Körper dicht an dicht „wie ein menschlicher Teppich“. Zahllose Menschen, denen die geschmolzene Haut in Fetzen vom Körper hing, zogen schweigend die Straße entlang. Was Nakazawa damals erlebte, sprengt das menschliche Vorstellungsvermögen.

Anti-Atom-Aktivist bis zum Schluss: Keiji Nakazawa.

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Nakazawas schwarz-weiße Zeichnungen sind von grauenhafter Schönheit. In mitunter schwer erträglichen Details beschreibt er, wie er seine Heimatstadt nach der nuklearen Katastrophe erlebte: als Totentanz der lebenden Leichen.

Seitenweise zeigt Nakazawa die Verstümmelungen der Opfer an Leib und Seele, es gibt Figuren, die von Würmern zerfressen werden oder sterbend nach Wasser rufen. Manche Bilder haben trotz ihrer Brutalität etwas Ikonenhaftes, ein brennendes Pferd erinnert an Dürers apokalyptische Reiter.

Am ergreifendsten sind die Szenen, in denen Nakazawa von seiner eigenen Familie erzählt, die zur Hälfte von der Bombe vernichtet wurde. Sein Vater und sein Bruder werden in den Trümmern ihres Hauses eingeklemmt und verbrennen, die Mutter bringt am Tag nach der Explosion ein Mädchen zur Welt, das später an Unterernährung stirbt.

Willkür der Japaner, Attacken der Amerikaner

Art Spiegelman, der mit „Maus“ die politisch-historische Comicerzählung salonfähig machte, schwärmt im Vorwort: „Die Ehrlichkeit der Zeichnungen verleiht ihnen eine solche Überzeugungskraft, dass das Unglaubliche und Undenkbare, das in Hiroshima wirklich geschehen ist, für den Leser erst fassbar wird.“

Dabei wirkt die Bildsprache des Autors auf den ersten Blick irritierend. Die Drastik des Geschehens wird mit einem vermeintlich niedlichen Stil vor Augen geführt. Große Augen, kleine Münder, dicke Backen: Die Helden tragen kindliche Züge mit disneyhaft überzeichneten Gesichtern.

Nakazawa beschränkt sich nicht auf die unmittelbaren Folgen des Bombenabwurfs, er bettet den 6. August 1945 in seinen politischen und gesellschaftlichen Kontext ein. Über fast 260 Seiten führt er den Leser in die nationalistische Hybris und den militaristischen Kadavergehorsam der japanischen Quasi-Diktatur seiner Kindheit ein.