„Letzte Generation“ kann Weltrekord nicht verhindern: Tigist Assefa verblüfft mit Fabelzeit beim Berlin-Marathon

Tigist Assefa lief mit einer Lässigkeit durchs Ziel nahe des verschmierten Brandenburger Tors ein, als habe sie soeben eine kleine morgendliche Runde durch Berlin gedreht. Tatsächlich aber war sie 42,195 Kilometer in 2:11:53 Stunden gelaufen. Und blieb damit mehr als zwei Minuten unter dem bisherigen Weltrekord von Brigid Kosgei (2:14:04 Stunden). Diese Zeit, die Leichtigkeit, es war fast schon eine verstörende Leistung der 29 Jahre alten Frau. Auf den letzten Kilometern des Berlin-Marathons war Assefa fast genauso so schnell wie der Sieger bei den Männern, Eliud Kipchoge. Der Kenianer kam in einer Zeit von 2:02:42 Stunden ins Ziel und blieb damit über seinem Weltrekord aus dem vergangenen Jahr in Berlin, als er in 2:01:09 Stunden angekommen war.

Ein großer Tag war es für die deutsche Leichtathletik. Amanal Petros schaffte einen neuen deutschen Rekord in 2:04:58 Stunden. Petros hatte große Taten angekündigt. „Ich will auf jeden Fall Bestzeit laufen“, sagte er zwei Tage vor dem Rennen. Er habe so lange wie noch nie, vier Monate, in Kenia trainiert. Auf einer Höhe von 2400 Metern lebte er in einer Trainingsgruppe mit 35 Athleten. „Ich habe auf so vieles verzichtet, ich bin froh, dass ich das Trainingslager geschafft habe“, sagte er.

Anschließend machte er Werbung. Er zeigte seine Laufschuhe und behauptete, dass dies die schnellsten Schuhe der Welt seien. Den Sponsor wird es gefreut haben. Die Frage schien also nur zu sein, um wie viele Minuten er den deutschen Rekord, den er selbst mit einer Zeit von 2:06:27 Stunden innehielt, verbessern würde.

Zumal auch Renndirektor Mark Milde von nahezu perfekten Bedingungen sprach. Ein deutscher Rekord würde beim Berlin-Marathon noch fehlen, bemerkte er. „Aber ich will jetzt keinen Druck aufbauen.“ Das brauchte er gar nicht, weil das Petros schon von sich aus schon getan hatte. Die Erwartungen waren groß.

Was die Bedingungen betraf, sollte Milde recht behalten. Bei 16 Grad, 66 Prozent Luftfeuchtigkeit und ganz leichtem Westwind ging es los. Allerdings etwas anders als im vergangenen Jahr. 2022 gab die damalige Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey mit eisernem Gesichtsausdruck den Startschuss aus einer Pistole ab, dieses Jahr drückte ihr Nachfolger Kai Wegner lächelnd auf einen roten Buzzer.

Perfekte Bedingungen beim Berlin-Marathon

Und Eliud Kipchoge? Der hatte zuletzt ein enttäuschendes Ergebnis beim Boston-Marathon hinnehmen müssen. Es war in diesem Jahr nicht sicher, mit welcher Ambition er dieses Jahr nach Berlin angereist war. Zumindest an den recht langsamen Bestzeiten seinen Tempomachern ließ sich ablesen, dass er nicht unbedingt einen neuen Weltrekord einplante. Möglicherweise diente dem 38-Jährigen der Berlin-Marathon als langsamer Formaufbau in Richtung Olympischer Spiele in Paris im nächsten Jahr.

Sein ärgster Konkurrent Amos Kipruto aus Kenia, Gewinner der London-Marathons im vergangenen Jahr, ging das Rennen nur ein My langsamer an als Kipchoge. Auf den ersten Kilometern befand sich der 31-Jährige mit seinen Tempomachern nur wenige Meter hinter der Gruppe des Weltrekordlers.

Das große Thema vor dem Rennen waren mögliche Aktionen der „Letzten Generation“. Viele Polizisten befanden sich am Streckenrand und sollten dies verhindern. Und schon kurz vor dem Start waren sie gefordert. Mehrere Menschen hatten versucht, sich auf die Straße des 17. Juni zu setzen, wurden jedoch von Polizei und Sicherheitskräften weggezogen. Auf einem Video war zu sehen, wie die Aktivisten Eimer mit oranger Farbe hochwarfen, die Farbe sich auf dem Asphalt ausbreitete.

Die Top-Läufer:innen bekamen dies entweder nicht mit oder ließen sich davon nicht beirren. Schon die Zwischenzeiten waren enorm: Kipchoge war nach zehn Kilometern mit 28:27 Minuten auf Weltrekordkurs, genauso wie Vorjahressiegerin Tigist Assefa aus Äthiopien (31:45 Minuten bei Kilometer zehn). Amanal Petros war auf nationalem Rekordkurs.

Vor allem Assefa verblüffte die Beobachter. Die 29-Jährige legte extrem schnelle Zeiten pro Kilometer hin, teils lief sie unter drei Minuten pro Kilometer und befand sich nach 17 Kilometern auf einem Kurs von 2:12,47 Stunden, weit unter der Weltrekordzeit von 2:14,04. Die Gruppe um Kipchoge dagegen wurde ab Kilometer 15 sukzessive etwas langsamer in ihren Kilometerzeiten. Schon kurz nach Kilometer befand sich Kipchoge nicht mehr auf Weltrekordzeit.

Ganz anders war das Bild bei den Frauen. Nach 25 Kilometern schien bereits klar, dass Tigist Assefa einen neuen Weltrekord aufstellen würde. Und sollte etwas dazwischenkommen, gab es noch etliche weitere Frauen, die im Bereich einer neuen Bestzeit waren.

Assefa hat eine unübliche sportliche Karriere für eine Langstreckenläuferin vorzuweisen. Sie begann über die Mittelstrecke, gewann zum Beispiel beim Leichtathletik-Meeting Istaf in Berlin im Jahr 2014 über 800 Meter. Von 2016 bis 2018 hörte man von der talentierten Läuferin gar nichts mehr, ehe sie von der Bahn auf die Straße wechselte und ihre Zeiten über die langen Strecken enorm steigerte. Was auch viele kritische Fragen aufwarf, die nach der Leistung am Sonntag nicht weniger werden dürften.

Assefa hatte im Vergleich zu Kipchoge einen großen Vorteil: Während der Ausnahmeläufer nach 31 Kilometern allein unterwegs war, konnte sich die Äthiopierin an den vor ihr laufenden Männern orientieren. Kipchoge wurde immer langsamer, sodass er die Gruppe um Kipruto fast noch an sich hätte vorbeiziehen lassen müssen. Doch er rettete sich als Erster ins Ziel. Assefa dagegen war bis zum Schluss in Sphären unterwegs, die es im Marathon der Frauen bislang nicht gegeben hat.