„Maria Kolesnikowa muss freikommen“: Ein Gespräch mit ihrer Schwester Tatsiana Khomich
Tatsiana Kohmich, Ihre Schwester Maria Kolesnikowa hat Querflöte in Stuttgart studiert. Wie wichtig ist die Musik in Ihrer Familie?
Sie spielt eine große Rolle, besonders für Maria. Sie wusste schon mit neun Jahren, dass sie Musikerin werden will. Als wir noch kommunizieren konnten, schrieb sie über die Bedeutung der Musik. Sie durfte kein Radio oder Fernsehen haben, aber sie hat die Leute in den ersten Monaten gebeten, ihr Partituren zu schicken. Als das Ministerium merkte, dass Noten für Maria eine gute Ablenkung waren, wurden ihr auch diese verboten. Mir sagte sie damals, dass es der große Vorteil einer Musikerin sei, Musik auch ohne technische Mittel hören zu können
Verbindet Ihre Schwester die Musik auch mit ihrem Kampf für Freiheit?
Für Maria sind Freiheit und Kultur eng miteinander verbunden. Es ist schließlich unmöglich, etwas Freies in einer unfreien Gesellschaft zu schaffen. Deshalb liebt Maria die Musik: Freie Kunst ist Spiegel einer freien Gesellschaft. Und letztlich ist sie auch deswegen zurück nach Minsk gegangen: Maria wollte die musikalische Landschaft in Belarus nach westlichem Vorbild mitgestalten.
Die klassische Kultur wird in Belarus also automatisch auch als Hinwendung gen Westen verstanden?
Sie ist gekommen, um die westliche Kultur – und die Rolle, die Kultur in westlichen Gesellschaften spielt – in Belarus zu entwickeln. 2020 hat sich für jeden gezeigt, wie bedeutsam Kunst und Kultur für die Freiheitsbewegung wurden. Es gab viele Gruppen und Bands, die während der Proteste gespielt haben. Die Musik hat ein Wir-Gefühl geschaffen – auch deshalb wurden leider viele der damaligen Musikerinnen und Musiker sofort inhaftiert.
Gibt es Beispiele für die Rolle der Musik in der belorussischen Freiheitsbewegung?
2020 hat sich spontan ein Freiheitschor gegründet, der überall in Minsk gesungen hat. Die Leute haben damals Masken getragen, weil es gefährlich war. Es waren Musikerinnen und Musiker aus unterschiedlichen Orchestern und Chören, die sich zu spontanen Konzerten zusammengefunden haben. Leider mussten viele Belarus inzwischen verlassen, ein großer Teil wohnt inzwischen in Polen, wo sie den Chor noch immer pflegen.
Als die Situation sich 2020 zuspitzte, ist Ihre Schwester in Minsk geblieben. Warum ist sie nicht ins sichere Stuttgart zurückgekehrt, wo sie viele Freunde hat?
Marias Rückkehr nach Belarus hatte bereits vorher begonnen. Gemeinsam mit anderen Künstlerinnen und Künstlern hat sie in einem Kultur-Hub gearbeitet, der 2016 vom späteren und dann verbotenen Präsidentschaftskandidaten Wiktar Babaryka gegründet wurde. Der Hub war so etwas wie das kulturelle Herz des Landes, das Maria mit ihrer Kultur-Management-Erfahrung zum Schlagen gebracht hat. Im Wahlkampf 2020 hat sie Babaryka auch deshalb unterstützt, weil die beiden die gleiche Idee von der Kultur innerhalb einer Gesellschaft hatten.
Kultur war also ein Bindeglied der Freiheitsbewegung?
Ja, und als Babaryka inhaftiert wurde, war für Maria klar, dass sie in der Verantwortung stand, diese Idee fortzuführen. Sie wurde eine der Sprecherinnen der Bewegung. Sie kann die Menschen inspirieren und wurde zum wichtigen Teil der Kampagne. Ich glaube, dass ihr die Erfahrung als Musikerin, die selbstverständlich auf der Bühne stand, sehr geholfen hat. Maria kann gut reden und zeigt wahnsinnig viel Empathie. So hat sie die Herzen der Menschen erreicht. Ich mache kein Geheimnis daraus, dass diese prominente Rolle meiner Schwester auch schwer war – gerade für unsere Familie. Aber: Wir hatten eine Chance, Lukaschenko loszuwerden -– und wir wollten sie ergreifen!
Dann kam der 7. September 2020, und Ihre Schwester wurde verhaftet. Was wissen Sie heute über ihre Situation?
Leider hat die Kommunikation mit Maria im Februar 2023 aufgehört. Was wir von anonymen Quellen aus den Gefängnissen hören, scheint sie in einer Strafzelle zu sein. Wahrscheinlich allein. Es hat sie inzwischen lange niemand mehr gesehen. Das bedeutet, dass sie wohl seit sieben Monaten in Einzelhaft sitzt.
Es hieß auch, dass ihr Gesundheitszustand so schlecht war, dass sie operiert werden musste.
Ja, wahrscheinlich als Konsequenz ihrer Haftbedingungen. Maria hatte nur sieben Minuten Freigang, durfte nicht arbeiten und am Ende auch nicht mit anderen kommunizieren. Die Operation Ende November war wahrscheinlich nötig, da sie vorher bereits in einer Strafzelle war. Es war feucht, der Winter kam, es war sehr kalt. Maria konnte nicht schlafen, so kalt war es. Sie erzählte, dass sie den ganzen Tag gegangen sei, um sich irgendwie aufzuwärmen. Sie hatte sich über die Haftbedingungen beschwert – ohne Erfolg. Schließlich wurde sie im Krankenhaus operiert. Wahrscheinlich in letzter Sekunde. Sie hatte damals bereits 15 Kilo abgenommen. Im Januar haben wir das letzte Mal von den Rechtsanwälten gehört.
Wie haben Sie vorher miteinander kommuniziert?
Am Anfang gab es noch Briefwechsel mit uns, den nahen Verwandten. Die Kommunikation mit ihren Freunden musste Maria schon vorher abbrechen. Rechtsanwälte konnten sie alle zwei Wochen sehen, und es gab ein oder zwei Mal im Monat Telefonate und fünfminütige Video-Calls. 2022 habe ich zum letzten Mal mit meiner Schwester gesprochen. Sehr kurz. Zum Glück konnte mein Vater sie besuchen, letzten November für zwei Stunden. Und dann nochmal zehn Minuten nach der Operation. Leider ist all das nun zu Ende. Der Staat erklärt, Maria wolle nicht mit uns reden und auch keinen Rechtsanwalt mehr sehen. Und so gibt es keine Chance, an neue Informationen zu kommen. Maria ist nicht die einzige, es gibt viele politische Gefangene. In Belarus Verschwinden die Leute einfach, und man weiß nicht, ob sie noch am Leben sind.
Im Westen gibt es viel Solidarität, auch an der Hochschule in Stuttgart. Was können wir tun, außer betroffen zu sein?
Wir müssen reden und dürfen Maria und die anderen Gefangenen nicht vergessen. Maria hat viele Preise bekommen, den Sacharow-Preis oder den Karlspreis. Auch das hilft, um Aufmerksamkeit zu schaffen. Außerdem habe ich sehr genau das Statement von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier wahrgenommen, der Maria ebenfalls unterstützt. Das ist eine wichtige Geste. Letztlich müssen wir auch weiterhin diplomatische Schritte jenseits der Öffentlichkeit anstreben. Es muss nach Möglichkeiten gesucht werden, dass Maria und die anderen 1.500 politischen Gefangenen in Belarus befreit werden. Wir brauchen Verhandlungen auf diplomatischer Ebene. Wir können nicht warten, bis sich die Situation zwischen Russland und der Ukraine verändert.
Wie scheuen Sie persönlich auf diese aktuelle politische Situation?
Die Situation ist kompliziert, und damit auch für meine Schwester. 2020 war Belarus sehr gut in den Medien vertreten, aber nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind wir ein wenig von der internationalen Agenda verschwunden. Es ist falsch, Belarus mit Lukaschenko gleichzusetzen. So viele Menschen in unserem Land haben gezeigt, dass sie dieses System verachten – und wurden von den Straßen geknüppelt. Wir müssen die Welt an unsere Gefangenen erinnern. Und wir müssen alles tun, um sie frei zu bekommen. Wir können nicht auf bessere Zeiten warten.