Hinter den Mauern der Moral

Für eine echte Debatte ist das Ganze noch nicht über eine erste Runde hinausgekommen. Die Attacke, die Moritz Baßler, der Professor Pop unter Deutschlands Germanisten, in der Frühjahrsausgabe von „Pop, Kultur und Kritik“ (pop-zeitschrift.de) gegen politische Wohlfühllektüren in der Literatur reitet, hat ein paar pflichtschuldige Entgegnungen auf sich gezogen. Baßlers gedankliche Schärfe erreichen sie schon deshalb nicht, weil ihnen genau jener Sinn für die Ambivalenz der eigenen Position fehlt, die seine Polemik so stark macht.

Er weiß, auf welch hohem Ross er sitzt, wenn er mit seiner Lanze in „niedrigqualifizierte Meinungsblasen“ hineinsticht und glücklichen Leserinnen und Lesern „sowohl Geschmack als auch intellektuelle Kapazität“ abspricht. Man muss ihn auch nicht darauf stoßen, dass sein jugendlich daher galoppierendes Pferd eine alte kulturkritische Schindmähre sein könnte. Wie sehr sich Literatur seit dem Aufkommen einer bürgerlichen Öffentlichkeit in Triviales und Nichttriviales aufspalten lässt und wie hoch der Anteil an zielgruppengenauer Bedürfnisbefriedigung ist, bedenkt er ausführlich.

Marie Schmidts in der „SZ“” geäußerter Vorwurf, Baßler liefere nur die ums Identitätspolitische erweiterte Klage über einen Mangel an ästhetischem, sich nicht in moralischer Identifikation erschöpfendem Bewusstsein, geht daher am Kern seiner Polemik vorbei. Es geht ihm nicht ums Lamentieren im akademischen Schmollwinkel, aus dem heraus er nicht mehr gegen die Social-Media-Schwärme ankommt, sondern um eine Beschreibung des Feldes, auf dem heute literarische Urteile entstehen. Ästhetischer Eigensinn, moniert Baßler aus linksliberaler Perspektive, wird durch ethische Maßstäbe eingeschränkt. Mit welchen Argumenten, fragt er sich letztlich, kommt das einsame Geschäft der Kritik bloßen Gefühlen bei?

Es macht sein Ungenügen an einem „Populären Realismus“ als dem dominierenden Zug zeitgenössischen Erzählens aus, dass das, was er allzu pauschal den „Murakami-Franzen-Schlink-Knausgård-Ferrante-Kehlmann-Komplex“ nennt, gegen die Versuchungen politischer Selbstbestätigungslektüren keinen Widerstand entfaltet. Der Populäre Realismus tut das, indem er uns „in die erzählte Welt versetzt, ohne dass wir auf deren Gemachtheit aufmerksam werden (,Realismus’), und weil er unsere Identifikation mit dem Protagonisten befördert (,populär’).“ Von Strategien der Verunsicherung oder der Ironie, wie sie selbst die an der Oberfläche affirmativste Popliteratur unterminieren, will er nichts wissen.

Die Stoffe sind nicht nur harmlos

Sollte Baßlers Diagnose zutreffen, wäre das Verrückteste an diesem stofflich keineswegs auf Harmlosigkeiten geeichten Mainstream-Realismus, dass er in einer Zeit Triumphe feiert, in der man sich weitgehend darauf verständigt hat, dass Gender und Race nichts als Projektionen sind. Wenn er also sein eigenes Gemachtsein verschleiert und zugleich die konstruktivistischen Theoreme aufsaugt, die er als politische Haltung vor sich herträgt, liegt darin nicht nur ein leiser Widerspruch, sondern etwas schreiend Ideologisches.

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Man kann dasnicht nur dem mangelnden Ehrgeiz seiner Autorinnen und Autoren anlasten: Die Spielarten von Literatur sind so vielfältig wie eh und je. Die Konformität ist auch das Ergebnis vielfältiger Marktmechanismen und sich verschiebender Konsekrationsinstanzen. Wie sie den Begriff von Literatur schleifen, ist Baßler parallel geführtes Thema. Insofern beschwerte sich Florian Kessler, als Hanser-Lektor für Karen Köhlers „Miroloi“ und Takis Würgers Holocaust-Kitsch „Stella“, zwei nicht nur von Baßler gescholtene Romane mitverantwortlich, in der „taz“ völlig zurecht, dass hier jemand auf „Ausschlüsse“ dringe.

Wo demokratische Öffnung nottut und wo Literatur, wie Baßler fürchtet, eine „selbstverstärkende Schließung“ nach Klientelinteressen betreibt, deutet sein Essay nur an. Er ist aber auch nicht mehr als der polemische Aufschlag zu einer diese „Äst-Ethik“ besonders berücksichtigenden „Gegenwartsästhetik“ (Konstanz University Press), die Baßler nun zusammen mit dem Frankfurter Germanisten Heinz Drügh veröffentlicht.