Henry Wanyoike bereitet sich auf den Berlin-Marathon vor
Mit schnellem, stetigem Schritt rannte Henry Wanyoike auf die Ziellinie zu. Immer wieder drehte er sich herum, blickte leicht nach unten. Nicht etwa, um seine Verfolger im Auge zu behalten – für sie war der Kenianer längst außer Reichweite –, sondern weil er seinen erschöpften, gut einen halben Kopf größeren Guide motivieren musste, mit ihm weiterzulaufen.
Was auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist: Henry Wanyoike ist blind. Er braucht einen Begleiter, um ihn durch die Strecke zu manövrieren. Doch an diesem Tag im Jahr 2000 war er es, der den Ton angab und im Ziel für eine neue Bestzeit sorgte. Wanyoike gewann über 5000 Meter bei den Paralympics in Sydney seine erste Goldmedaille.
„Das war der Wendepunkt für mich. Von diesem Tag an wusste ich, dass ich alles schaffen kann“, sagt Wanyoike rückblickend. Nur fünf Jahre zuvor hatte er durch einen Schlaganfall sein Augenlicht verloren und musste sein Leben von einem Tag auf den anderen komplett umstellen. „Als ich am Abend ins Bett ging, war noch alles gut. Doch als meine Mutter mich am nächsten Tag weckte, blieb meine Welt dunkel.“
In Kikuyu, einem Dorf etwa zwanzig Kilometer entfernt von Nairobi, geboren und aufgewachsen, tat sich der damals 21-Jährige schwer, seine neue Realität zu akzeptieren. Wanyoike konnte nicht fassen, dass er auf einmal blind war. Alle seine Träume waren dahin und anstatt die Welt zu bereisen hatte er Probleme, sich in seiner kleinen, ihm an sich vertrauten Umgebung zurecht zu finden.
Hinzu kam, dass er von der Gesellschaft anders betrachtet wurde. „Damals war es üblich, dass Behinderte von ihrer Familie versteckt wurden“, berichtet er. Seine plötzliche Erblindung wurde als eine Art Fluch verstanden, führte dazu, dass sich Freunde und Bekannte von ihm abwandten. Dabei waren es doch genau diese Menschen, auf die er nun angewiesen war. Durch die Ausgrenzung der Gesellschaft verstärkte sich sein Trauma zunehmend und der zuvor so lebensfreudige Mensch quälte sich mit Selbstmordgedanken. Er wollte nicht zur Bürde seiner Familie werden, nicht bettelnd auf den Straßen herumlungern und auf Almosen hoffen. Im Tod hingegen sah er einen erlösenden Ausweg.
“Blind sein war meine neue Normalität”
„Auf einmal war alles anders. Blind sein war meine neue Normalität. Doch ich hatte niemanden, der sich damit auskannte und der mir helfen konnte“, sagt Wanyoike, der zu seinem Glück den Weg zu einem Rehabilitationszentrum fand, wo er nicht nur die ersehnte Hilfe bekam, sondern darüber hinaus andere Menschen mit körperlichen Einschränkungen kennenlernte, die ihn auf seinem Weg unterstützten. Er lernte, mit dem Blindenstock umzugehen und Hilfe anzunehmen. Zu kommunizieren, wenn er nicht weiter wusste, anstatt sich in Frustration zu vergraben.
Schritt für Schritt wurden seine Lebensgeister gestärkt und Wanyoike entdeckte sogar seine Liebe für das Laufen wieder, die ihn von Kindesalter an angetrieben hatte. Sein Traum, ein weltberühmter Athlet zu werden, lebte neu auf und er trainierte unaufhörlich. Bis er im Jahr 2000 im Nyayo National Stadion in Nairobi um die Qualifikation für die Paralympischen Spiele in Sydney antrat.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können]
Ohne Laufschuhe und mit kaputter Hose wurde Wanyoike von vielen Anwesenden nur milde belächelt. Doch er überraschte alle, schaffte spielend die Qualifikation und von da an begann der Aufstieg des Sportlers Henry Wanyoike. Nach der Goldmedaille in Sydney über 5000 Meter trat der Läufer anschließend auch über die doppelte Distanz an. Er gewann bei der Weltmeisterschaft 2002 über beide Strecken Gold, bei den Paralympics 2004 wiederholte er diesen Doppel-Triumph. Über die 5000 Meter gewann er in Athen in bis heute bestehender Rekordzeit. Zahlreiche Medaillen kamen über die Zeit hinzu und es dauerte nicht lange, bis sich Wanyoike an immer längere Distanzen heranwagte. Schnell feierte er Erfolge im Halb-Marathon und im Marathon.
Eine Grundlage dafür war nicht zuletzt, dass er seinen Guide besser auswählte. Seine Begleitperson in Sydney war noch ein Freund aus der Schule, „aber für ihn war bei 5000 Meter Schluss“, erklärt Wanyoike. Für seine neuen Ansprüche reichte das nicht. Er versuchte dann, mit mehreren Guides zu laufen, die sich auf der Strecke abwechselten. „Teilweise waren es acht Läufer, die mich begleitet haben. Doch das war nicht gut für mich.“ Umso glücklicher ist Wanyoike nun, dass er seit zehn Jahren Paul Wanyoike an seiner Seite hat. „Ihm kann ich vertrauen, dass er die ganze Zeit an meiner Seite ist. Wenn ich etwas abbaue, motiviert er mich. Er kennt mich“, sagt Henry Wanyoike über Paul, der nicht mit ihm verwandt ist und trotzdem wie eine Art Bruder für ihn ist.
Vorbereitung auf den Berlin-Marathon
Paul läuft selbst seit der Highschool und hat Henry im Jahr 2007 kennengelernt, als dieser trainierte. Beide verstanden sich vom ersten Moment an, begannen miteinander zu laufen. „Wenn es etwas gibt, was du tun kannst, um deinem Kollegen zu helfen, sollte man das tun. Man profitiert immer auch selbst davon“, sagt Paul. Nach über einem Jahrzehnt zusammen sind die beiden nun nicht nur sportlich im Gleichschritt. „Beim Laufen brauchen wir manchmal gar keine Worte mehr“, erzählt Paul. Die Kommunikation erfolgt zum großen Teil über die Kordel, die die beiden bei Wettkämpfen verbindet. Durch Signale mit der Hand oder der Schulter gibt er die Richtung an, Worte benötigt er nur, um vor Hindernissen zu warnen oder zu erklären, wie das Läuferfeld aussieht. Oder eben um Henry zu motivieren.
[Mehr guten Sport aus lokaler Sicht finden Sie – wie auch Politik und Kultur – in unseren Leute-Newslettern aus den zwölf Berliner Bezirken. Hier kostenlos zu bestellen: leute.tagesspiegel.de]
Aktuell bereiten sich beide auf den bevorstehenden Berlin-Marathon an diesem Sonntag vor. „Es ist seit langem unser Traum, bei diesem Lauf anzutreten. Es ist einer der berühmtesten Marathons der Welt“, sagt Henry Wanyoike. „Und nach dieser langen Zeit ohne Wettkämpfe ist es für mich nicht nur eine sportliche Herausforderung. Die Läufe geben mir immer wieder das Gefühl, alles im Leben bewältigen zu können – trotz meiner Einschränkung.“
Für Wanyoike ist es schon fast nebensächlich geworden, auf welchem Rang er in Berlin letztlich ins Ziel läuft. Er läuft für sich und um zu inspirieren. Er läuft, um darauf aufmerksam zu machen, dass Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung trotzdem zu enormen Leistungen fähig sind. Um durch die eingenommenen Preisgelder und Spenden anderen helfen zu können.
Dafür hat der mittlerweile 47-Jährige vor Jahren seine eigene Stiftung eingerichtet, engagiert sich für Umweltschutz, hilft anderen Blinden und unterstützt die Menschen in seiner Heimat. „Nachdem ich erfolgreich geworden war, kamen viele Menschen zu mir und haben um Hilfe gebeten. So fing es an“, blickt Henry zurück.
Mit der Hilfe seiner Freunde und Unterstützer baute er beispielsweise ein Netzwerk auf, um für die Menschen in seinem Dorf die Grundversorgung durch die Bereitstellung von Farmtieren zu sichern. Durch die Stiftung „Theresia House of Hope“ werden Kinder mit grundlegender schulischer Ausbildung und Essen versorgt, über andere Kanäle hilft er blinden Menschen, sich in ihrer neuen Umgebung einzufinden und übernimmt teilweise deren Krankenhausrechnungen. Darüber hinaus interagiert er mit Athleten, die in Nairobi und Umgebung eine läuferische Karriere anstreben.
„Wir wollen etwas an die Gesellschaft zurückgeben und durch diese kleinen Schritte die Welt etwas besser machen“, sagt Wanyoike. „Ich sehe mittlerweile nicht mehr mit meinen Augen, sondern mit meinem Herzen und mit meinem Kopf. Ich bin zwar blind, aber ich habe eine Vision.“ Und so läuft Henry Wanyoike weiter – für sich und für so viele andere Menschen.