Foto-Ikone Diane Arbus im Gropiusbau: Sie wollte wirklich wissen, wer diese Menschen sind

Sie wollte die Wahrheit. Dafür brauchte die New Yorker Fotografin keine perfekten Bilder, sondern ehrliche. Ehrlich hieß für Diane Arbus, man sieht die Unordnung im Wohnzimmer, den Pickel im Gesicht, die dünnen Ärmchen im teuren Abendkleid. Und man sieht, dass sich hier jemand entschieden hat, sich fotografieren zu lassen.

Betrachtet man die unglaublichen 454 Bilder von Diane Arbus, die ab diesem Donnerstag im Gropius Bau ausgestellt sind, – obwohl niemand es schaffen wird, sie wirklich alle zu sehen –, hat man das schöne Gefühl, hier Menschen eher kennenzulernen als sie nur anzustarren. Was auch an der Art liegt, wie die Porträts präsentiert werden. Statt in Gruppen sortiert und an der Wand, hängen sie einzeln frei im Raum.

Der Riese im Wohnzimmer

Diane Arbus ist eine der ungewöhnlichsten und einflussreichsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. Eine Ikone. Früh verstorben. 1971 nahm sie sich in ihrem New Yorker Apartment mit nur 48 Jahren das Leben. Die Annäherung an ihre Protagonisten war von einem Interesse an unterschiedlichen und nicht der Norm entsprechenden Menschen geprägt.

Sie fotografierte Alte, Dicke, Menschen mit Behinderung, trans Personen, Paare mit schrägen Hobbys. Sie fand sie nicht nur in den Straßen und in der U-Bahn, sie besuchte auch gezielt Travestie-Clubs und Kleinkunstshows. Die New Yorker Intellektuelle Susan Sontag verwendete in ihrem Essay von 1977 den Begriff „Freak Show“. Sie hielt Arbus zugute, dass sie Normalität hinterfragt, unterstellte ihr aber Dominanz und eine Kälte im Blick.

Diane Arbus: Selbstporträt mit einer 35mm Contax D Kamera, 1959.

© The Estate of Diane Arbus/Diane Arbus Archive/The Metropolitan Museum of Art

Arbus’ Herangehensweise spricht dagegen. Sie lässt die Kamera arbeiten und die Menschen sich selbst inszenieren. Meist trifft sie die Personen mehrmals, baut langfristige Beziehungen auf, besucht sie zu Hause.

Ihr Bild des „größten Mannes“, wie er bei seinen Eltern im Wohnzimmer steht und sich bücken muss, um überhaupt in die Stube zu passen, gehört zur berühmten Zehner-Fotografiebox. Einer Auswahl an zehn Werken, die Arbus selbst getroffen und als Edition geplant hat.

Im ersten Moment überwältigt die Fülle und das Chaos, der Eindruck legt sich aber schnell, sobald man darin die Freiheit entdeckt. Man sieht die eine Person und wandert an der anderen vorbei. Im nächsten Moment wäre der Fokus schon anders. Arbus zeigt in ihrer Fotografie keine Gruppen mit besonderen Merkmalen, sondern Einzelne. So ist die Gesellschaft.

Und die Prominenten – Schriftsteller, Regisseure und Intellektuelle wie Susan Sontag – die Arbus eher im Auftrag von Magazinen als aus eigenem Antrieb fotografiert hat, sind nicht mehr oder weniger schräg als alle anderen. Man habe an den vorherigen Stationen in Arles und New York festgestellt, dass die Aufenthaltsdauer der Besucher viel länger sei als bei Bildern an der Wand, sagt Selkirk zufrieden.

Er hat lange darauf gewartet, seine Sammlung in einem Ausstellungsraum zu sehen. Bei LUMA lagen die Bilder mehr als zehn Jahre im Depot, bevor der dortige Chef-Kurator Matthieu Humery einen Slot im weltweiten Ausstellungskalender fand, an dem noch nicht irgendwo eine große Arbus-Retrospektive lief. Er hat die „Konstellationen“-Schau konzipiert, 2023 wurde sie erstmals in Arles gezeigt.

Von Arles nach Berlin

Schon als Teenager wusste Diane Arbus alles über Fotografie und philosophierte über das Göttliche in den gewöhnlichen Dingen. Sie wuchs, 1923 geboren, in einer jüdisch-amerikanischen Pelz- und Modehausfamilie auf, in einer Wohnung am Central Park. Heiratete später einen Mann, den sie unbedingt wollte und den ihre Eltern ihr gerne ausgeredet hätten.

Bis 1956 arbeiteten beide als Modefotografen für Magazine wie „Esquire“ und „Harper’s Bazaar“. Als Arbus beschloss, sich voll auf ihre künstlerische Arbeit zu konzentrieren, bekam sie trotzdem noch Aufträge von experimentierfreudigen Mode-Magazinen, etwa für die Fotoserie im FKK-Urlaubscamp. 

Ein Bild aus dieser Serie gehört zu Selkirks Lieblingswerken. Vater, Mutter, Kind, alle nicht dünn, sitzen auf einer Wiese im Gras, die Eltern nackt, spürbar im Reinen mit sich und ihrem Körper. Rechts ragt der Kotflügel eines Cadillacs ins Bild. Das Bild habe er im Haus eines Bekannten gesehen, als er von Diane Arbus noch nichts wusste und es habe ihn umgehauen, sagt Selkirk.

Neil Selkirk lernte Diane Arbus ein Jahr vor ihrem Tod in New York kennen. Er war aus London gekommen, um Assistent des japanischen Mode- und Werbefotografen Hiro zu werden. Der teilte sich sein Atelier mit dem weltberühmten Richard Avedon, bei dem es jeden Tag ein leckeres Mittagessen gab, deshalb schauten finanziell schlechter gestellte Künstler wie Diane Arbus regelmäßig vorbei.

Arbus wollte außerdem lernen, mit Hiros neuer Pentax 6×7-Kamera zu arbeiten, Selkirk brachte es ihr bei. So kam es, dass sie, die damals als wegweisende Fotografin galt, aber noch keine Berühmtheit war, den jungen Briten stark beeinflusste. „Sie hat mich zerstört“, lacht Selkirk. Nachdem er nämlich gesehen hatte, wie Arbus mit Realität und Bildern umging, hatte auch er keine Lust mehr für Werbeaufträge den perfekten Schein zu inszenieren. 

Manche von Arbus’ Bildern, wie das Porträt einer Frau im Wohnzimmer oder die Aufnahme eines Schlosses in Disneyland sind merkwürdig ausgeleuchtet, viel zu dunkel oder an den falschen Stellen zu hell. Andere weisen Kratzer oder andere Unregelmäßigkeiten auf, die die meisten Fotografen eliminieren würden.

Arbus will den Moment, wie er war. „Diane Arbus wollte die Menschen, die sie fotografierte, wirklich kennenlernen“, sagt Selkirk. Und trotzdem lässt sie ihnen ihre Geheimnisse.