Es war einmal die Fußballnation Italien
Am Tag danach war das Entsetzen noch größer als vor vier Jahren. Im November 2017 verpasste die italienische Nationalmannschaft zum ersten Mal seit 60 Jahren eine WM-Endrunde, doch eine Sensation war das damals nicht mehr. Zwar hieß der Gegner „nur“ Schweden, doch die Squadra Azzurra war in einem bemitleidenswerten Zustand, ohne Konzept und Selbstvertrauen, angeleitet von einem ebenso farb- wie erfolglosen Trainer.
Dieses Mal war die Situation anders. Vor nicht einmal neun Monaten hat Italien bei der EM begeistert und den Titel geholt, der Kader hat sich seitdem kaum verändert und Coach Roberto Mancini wird überall geschätzt. Die breite Öffentlichkeit war im Kopf schon bei Portugal, beim Play-off-Finale am Dienstag. Cristiano Ronaldo, Bruno Fernandes, Bernardo Silva – das würde eine schwierige Aufgabe werden. Aber Nordmazedonien? So weit ist es schon gekommen. „Wir sind enttäuscht, gebrochen, am Boden zerstört“, sagte Abwehrveteran Giorgio Chiellini nach der sensationellen 0:1-Niederlage am Donnerstagabend in Palermo.
Fast 35.000 Zuschauer sahen über 95 Minuten ein äußerst einseitiges Spiel: Italien drückte, Italien schoss 32 Mal in Richtung Tor, Italien hatte 16 Ecken – und kassierte durch einen Weitschuss in der Nachspielzeit das 0:1. „Wir wissen nicht, wie dieses Spiel so ausgehen konnte“, sagte Nationaltrainer Roberto Mancini, der die fehlende Präzision seiner Spieler im gegnerischen Strafraum als ehemaliger Klassestürmer auf der Bank kaum aushalten konnte. „Wir wissen nicht mal, warum es überhaupt so weit kommen konnte.“
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Der Europameister hatte gleich mehrere Chancen auf die direkte Qualifikation, tat sich vor dem gegnerischen Tor aber durchgehend schwer und vergab bei den zwei Remis gegen den späteren Gruppensieger in Person von Jorginho sogar zwei Elfmeter. „Das wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen“, sagte Europas Fußballer des Jahres. Sein Mittelfeldkollege Marco Verratti, am Donnerstag mit Abstand der beste Mann auf dem Platz, sprach vom „größten Alptraum“.
Wie es nun personell und strategisch weitergeht, ist noch unklar. „Wir werden sehen – die Enttäuschung ist zu groß, um über die Zukunft zu sprechen“, sagte Mancini, der trotz der verpassten Qualifikation im Verband, bei den Medien und bei einem Großteil der Fans noch viel Kredit genießt. Letztlich bedarf es keiner großen Analyse, um zu erkennen, dass die Probleme im italienischen Fußball sehr tief liegen und nicht neu sind. „Wir ernten das, was wir gesät haben“, sagte der frühere Nationaltrainer und Fußballreformer Arrigo Sacchi der „Gazzetta dello Sport“. „Die EM war eine Ausnahme.“
Sacchi ist in seiner Rolle als Experte nicht unumstritten, doch in diesem Punkt sind sich alle einig: Der Erfolg bei der Europameisterschaft hat viele Probleme in den Nationalmannschaften, dem Verband, dem Nachwuchs und den Klubs überdeckt. Zwei verpasste Weltmeisterschaften sind kein Zufall und in Südafrika sowie Brasilien erlebte Italien bereits enttäuschende Turniere. Das letzte K.o.-Spiel bei einer WM datiert vom 9. Juli 2006, Berliner Olympiastadion, Finale gegen Frankreich. „Die anderen Nationen entwickeln sich, wir sind auf dem Stand von vor 60 Jahren geblieben“, sagte Sacchi.
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Die strukturellen Probleme betreffen vor allem den Nachwuchsbereich. Junge italienische Spieler bekommen in der Serie A und besonders bei den Topklubs kaum Einsatzzeiten und spielen oft mit Anfang 20 noch in der zweiten oder dritten Liga. Bei der EM profitierte Mancini von der Vorbereitungszeit, in der er das Team zusammenschweißte und taktisch exzellent einstellte. Vor dem Spiel gegen Nordmazedonien hatte er nur anderthalb Trainingseinheiten zur Verfügung. Gegen den 67. der Fifa-Weltrangliste sollte das trotzdem für den Sieg reichen.
Mancini hat seinen Vertrag im vergangenen Jahr bis 2026 verlängert und ob mit ihm oder ohne ihn wird es nun einen großen Umbruch geben müssen. Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci haben die 30 schon deutlich überschritten, Ciro Immobile ist im Nationaltrikot selten der eiskalte Vollstrecker wie bei Lazio Rom, Lorenzo Insigne wechselt im Sommer nach Kanada. Herausragende Talente, die in die Mannschaft drängen, gibt es außer Spielgestalter Sandro Tonali kaum. Eine positive Nachricht für die Zukunft gibt es immerhin. 2026 nehmen 48 Mannschaften an der WM teil. (mit dpa)