Debüt-CD des Ensembles The Present: Auf dich, Maria!

Es blubbert und gluckst, der Herzschlag galoppiert, ein Baby brabbelt und saugt Muttermilch, Klingeling, Gongschlag und … –  nein, keine Sorge, das hier wird kein esoterischer Mutterleib-Ambient-samt-Geburtsglück-Sound. Es geht nämlich ziemlich anders weiter in Hildegard Westerkamps „Breaking News“ zu Beginn dieses ziemlich anderen Marienvesper-Albums. Vorgelegt hat es das Berliner Vokalensemble The Present, mit je vier Sängerinnen und Sängern, Theorbe, Violone, Orgel und Cembalo.

Vergangenes Wochenende hat das Ensemble den letzten Teil seiner Klimakrisen-Performance „The Present rettet die Welt“ als Produktion der Neuköllner Oper im Spreepark zu Ende gebracht, jetzt legt es seine Debüt-CD vor. Der Titel „Ex Utero“ spielt augenzwinkernd auf das legendäre Nirvana-Album „In Utero“ an. Und er zitiert eine Zeile aus „Dixit dominus“, einer barocken Psalmvertonung der Äbtissin Chiara Margarita Cozzolani.

Motto des Albums: „And here’s to you, Maria!“. Das Ensemble kombiniert gerne Alte und Neue Musik – wegen des belebenden Kontrasts und weil das Neue im Alten zutage tritt, ebenso wie das Alte im Neuen, erzählt Sopranistin Olivia Stahn, eine der künstlerischen Leiterinnen neben Hanna Herfurtner und Amélie Saadia. Die Gruppe hat auch schon Bach und Berio kurzgeschlossen oder Brahms und Schubert mit Britney Spears und Helene Fischer. Oder Da-Capo-Arien aufs Korn genommen, im musiktheatralischen „Selbsterfahrungsseminar für acht Stimmen a cappella und ein Donnerblech“ namens „Händel im Affekt“.

The Present debütierte 2019 bei den Schwetzinger Festspielen und trat seitdem unter anderem an der Neuköllner Oper auf, bei den Thüringer Bachwochen oder den Bregenzer Festspielen. Die häufig feministische Ausrichtung der Programme ist dabei keine Ideologie, sondern schlicht eine Frage der Neugier. Bei jedem Thema schauen die drei erstmal: Was gibt’s dazu von Komponistinnen? Mit welchen Künstlerinnen können wir uns zusammentun?  

Das Leitungstrio des Vokalensembles The Present (v.l.): Olivia Stahn, Amélie Saadia, Hanna Herfurtner
Das Leitungstrio des Vokalensembles The Present (v.l.): Olivia Stahn, Amélie Saadia, Hanna Herfurtner
© Theresa Pewal

Bei „Ex Utero“ stieß das Leitungstrio – die freischaffenden Sängerinnen leben in Berlin, Stahn singt unter anderem an der Staatsoper, Saadia unterrichtet an der UdK – auf diese italienische Nonne. Chiara Margarita Cozzolani (1602 – 1676/78) lebte in einer Zeit, als die Pest wütete. Abgeschieden im lombardischen Kloster, blieben die Ordensschwestern von der Epidemie verschont, wie das Booklet verrät. Weil der männliche Klerus dezimiert war, machten sie mit ihren Chorgesängen in Mailand Furore, trotz der rigiden Beschränkungen für Frauen in der Kirche. Cozzolani stieg zur Maestra di Cappella und zur Äbtissin auf. Vielleicht waren ihre Psalmvertonungen und Concerti Sacri ja deshalb so beliebt, weil sie vor Überlebenslust nur so bersten.

Alleine das überschwängliche „Gloria“ im „Dixit Dominus“ oder die sich verströmenden, tanzenden, Kapriolen schlagenden Stimmen in den Arien. All die fröhlichen Üs, „Jerüsalem“, „Laudate püeri“, „Hallelüja“, so sprach man das im Mittelalter womöglich aus. Und die verblüffendenTempo- und Affektewechsel, das ganze Spektrum zwischen Übermut und Melancholie: Hier wird keine Muttergottes angebetet, sondern das Leben gefeiert, mit all seinen Turbulenzen.

Am Anfang des Projekts, das im Großen Sendesaal des WDR in Köln realisiert wurde, stand eigentlich das Thema Erinnerung. The Present wollte an vergessene Komponistinnen erinnern und der Frage der Konservierung von Musik nachgehen. Schließlich trägt das Berliner Ensemble die Flüchtigkeit seiner Kunst schon im Namen. Also suchten sie gezielt nach zeitgenössischer Vokalmusik mit Tonbandzuspiel.

Ein Mann summt vor sich hin, badet ein Kind, Erwachsene imitieren Tiere, rollen das R, rufen „guckguck“. Die Geburt der Sprache aus dem Gesang: Für ihre „Moments of Laughter“ arbeitet die kanadische Klangkünstlerin Westerkamp mit Field Recordings. Ihre zwischen die Barockmusik eingestreuselten Soundfragmente aus dem häuslichen Alltag werden zum akustischen Sinnbild eben jenes Kokons, den es im Lauf eines Kinderlebens zu verlassen gilt.

Olivia Stahn betont im Gespräch, dass „Ex Utero“ eben nicht traditionelle Mutterschaft zelebriert, sondern „Leben und Elternschaft im allerweitesten Sinne“. Maria und das Jesuskind, klar, aber es gilt, den weltlichen Gehalt freizulegen.

Mischt gern Alte und Neue Musik: das Berliner Vokalensemble The Present.
Mischt gern Alte und Neue Musik: das Berliner Vokalensemble The Present.
© Theresa Pewal

Reclaim Marienvesper also: auch mittels der Musique concrète von Michèle Bokanowski – ihr meditativ-spaciges „Korè“ stammt aus den 70er Jahren – und von Catherine Lambs fast zehnminütigem Stück „Pulse/Shade“. Die in Berlin lebende US-Komponistin lässt vier Sängerinnen Vokale und Umlaute in Endlosschleife wiederholen, in verschiedenen Tempi, bis die pulsierenden Patterns sich einander zunehmend anverwandeln.  

Das Stück hat The Present zuletzt auch im Plänterwald präsentiert. Umgeben von den Geräuschen und Outdoor-Partyklängen der Großstadt, wurde die saubere Intonation der nicht wohltemperierten, sondern reinen, also geringfügig kleineren Intervalle zur Herausforderung. Die App für Tonfrequenzen hilft: In Olivia Stahns Handyhülle steckt noch ein Spickzettel für „ihren“ Ton: 324 Hertz.