Das 5. Ukrainische Filmfest Berlin: Die Farbe der Granaten

Er dreht seine Pirouetten auf dem Eis, ist ein lustiger Vogel, darf mit der Kompagnie Fernreisen unternehmen und filmt die Familie, kaum dass er mit Bergen voll Geschenken nach Kyjiw zurückkehrt: Für „Fragments on Ice“, den Eröffnungsfilm des 5. Ukrainian Film Festival Berlin (23. bis 27. Oktober), hat Regisseurin Mariia Stoianova privates Videomaterial ihrer Eltern montiert. Der Vater war ein Star beim legendären ukrainisch-sowjetischen „Ballet on Ice“, ihre Mutter arbeitete dort als Regieassistentin.

Stoianovas Filmessay wirft einen von bitterer Melancholie geprägten Blick zurück in die Übergangszeit der Achtzigerjahre. Das in den damaligen sowjetischen Staaten wie im westlichen und asiatischen Ausland gefeierte Folklore-Ensemble degradiert nach der Wende vom gefeierten, KGB-kontrollierten Kulturexportschlager zum vernachlässigten Auslaufmodell.

Auf die ohnehin eher prekären Familienverhältnisse folgt mit dem Ende der Sowjetunion und der ukrainischen Unabhängigkeit schließlich die blanke Existenznot. In den Home Movies lässt sich der Vater die Sorgen gleichwohl kaum anmerken, und wenn er sich im Micky-Maus-Kostüm im deutschen Europapark verdingen muss.  

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„Die Kunst, frei zu sein“: Das Motto des diesjährigen Festivals, das 13 Autorenwerke aus der Ukraine sowie drei Kurzfilmprogramme (erstmals mit einem Wettbewerb) präsentiert, zielt keineswegs nur auf Putins Invasion und die Folgen des Angriffskriegs. „In einer Zeit, in der physische Grenzen streng bewacht werden und sich die metaphysischen verschieben, stellt das Festival, das der Dekolonisierung gewidmet ist, eine zutiefst persönliche und gleichzeitig universelle Frage: Was bedeutet es, frei zu sein?“, so Programmdirektorin Dariia Buteiko. Russland als kolonialistische Macht: Einige Filmfest-Beiträge weiten den Blick deshalb Richtung Armenien und Georgien.

Die Verteidigung der Freiheit kann allerdings tödlich enden. Viktor Onysko, der Editor von „Fragments on Ice“, starb im Dezember 2022, als er für sein Land an der Ostfront kämpfte. Bei der anarchischen Medien- und Politsatire „The Editorial Office“ verantwortete er ebenfalls den Schnitt; auch Regisseur Roman Bondarchuk hat seinen Film Onysko gewidmet. Nicht zuletzt wurde der Schauplatz von „The Editorial Office“ vom Krieg heimgesucht, nachträglich. Gedreht in der landschaftlich wunderschönen Region Cherson, die teils illegal gerodet und unter anderem durch die Sprengung des Kachowka-Damms verwüstet wurde, zeigt die surreale Farce über Korruption und Profitgier in der Lokalpolitik, was die russische Armee ganz real zerstört hat.

„The Editorial Office“ war bereits auf der Berlinale zu sehen. Auch Oksana Karpovychs Doku „Intercepted“, die im Rahmen eines gemeinsam mit der Bundeszentrale für Politische Bildung organisierten Programms zum Thema Desinformation gezeigt wird, lief im Februar bei den Filmfestspielen.

Auf der Tonspur hört man Telefonate russischer Soldaten mit ihren Familien (abgefangen vom ukrainischen Geheimdienst), auf der Leinwand zeigt Karpovych statische Tableaus ihrer kriegszerstörten Heimat. Hier Menschen, die ins Nichts starren, dort die Berichte von Misshandlungen und gezielten Tötungen ukrainischer Bürger – eine gerade in ihrer Kontrastschärfe erschütternde Gegenüberstellung.

Ob nun eine Ukrainerin ihr Reiseunternehmen aufgibt, um stattdessen tote Soldaten zu transportieren („Mission 200“); die Zuschauer in „The Basement“ eine Ahnung davon bekommen, wie es ist, 27 Tage lang mit 77 Kindern im Schulkeller auszuharren; oder Mariia Ponomarova die Cheerleader-Gruppe „Nice Ladies“ begleitet, die wegen der Invasion in alle Himmelsrichtungen zerstreut wird: Der Krieg ist in den Filmen allgegenwärtig. Wie sollte es auch anders sein.

Dennoch richtet das Festival das Augenmerk gleichzeitig auf die reiche Kultur- und Filmgeschichte des Landes, auf eine andere, stillere Ukraine. Unter dem Titel „Beyond the Shadows“ ist ein kleiner Schwerpunkt dem großen Filmpoeten und -rebellen Sergei Parajanov gewidmet. Vor 100 Jahren in Tiflis geboren, studierte er in Moskau, lebte in Kiew, wurde dort unter anderem wegen seiner Homosexualität verhaftet, saß später auch in Tiflis im Gefängnis.

Im Silent Green läuft am 24. Oktober sein frisch restauriertes Meisterwerk „Schatten der vergessenen Ahnen“. Auch „Die Farbe des Granatapfels“ wird gezeigt, Parajanovs surrealistische Hommage an den armenischen Dichter Sayat-Nova. Ein archaisches Fresko, voller Rätselbilder, deren visueller Kraft man sich bei aller Befremdung nicht entziehen kann.

Filme, die mit ihren Visionen den Verstand übersteigen: So schließt sich der Kreis zur Groteske „The Editorial Office“, bei dem die Fantasie ebenfalls Purzelbäume schlägt. Nur dass es eine von der Gegenwart und ihren Boshaftigkeiten zerzauste Fantasie ist.