„Crimes of the Future“ im Kino: Chirurgie ist der neue Sex
Die „Kreatur“, die da im Badezimmer am Boden kauert und ausgehungert an einem Plastikmülleimer herumknuspert, gehört zu den verstörendsten Wesen im über fünfzig Jahre umspannenden Œuvre des kanadischen Regisseurs David Cronenberg. Äußerlich sieht „es“, wie die Mutter ihren Sohn nennt, wie ein normaler Junge aus: Vor dem Abendessen spielt er noch am Strand, vor Wrack eines leckgeschlagenen Luxusliners. Es sind seine Essgewohnheiten, die die junge Frau (Lihi Kornowski) irritieren. Mit seiner säurehaltigen Spucke macht er das Plastik mürbe, bevor er auf dem Industriemüll herumkaut. Zu viel für Djuna Dotrice: Im Schlaf erstickt sie den Jungen.
Der Kindsmord ist das letzte große Kinotabu, das der 79-jährige Großmeister des Bodyhorrors bis jetzt noch nicht angerührt hatte. Cronenberg hat sich seit jeher für die Evolution des Menschen durch neue Technologien interessiert, sei es durch Mediensucht in „Videodrome“ von 1983, fehlgeleitete Experimente („Die Fliege“, 1986) oder die Verlockungen der Virtuellen Realität („eXistenZ“, 1999). Der Fortschritt war für Cronenberg immer schon beides, Utopie und Sündenfall.
Der Altmeister des Bodyhorror sucht eine Erbin
In „Crimes of the Future“ – Cronenbergs erster Film in acht Jahren und die Rückkehr zu seinem ureigenen Genrekino, das weiter auf einen würdigen Nachfolger wartet, den oder die (vielleicht „Titane“-Regisseurin Julia Ducournau?) er beerben kann – hat die Evolution eine dystopische Wendung genommen.
Umweltverschmutzung und Klimakatastrophe haben den menschlichen Körper verändert. Angetrieben von seinem Überlebensinstinkt unter den neuen Lebensbedingungen entwickelt der Mensch neue, „nutzlose“ Organe, streng überwacht von einer repressiven Regierung, die gegen diesen Wildwuchs eine noch geheime Behörde mit dem Namen „National Organ Registry“ (NOR) – eine Unterabteilung des Sittendezernats – ins Leben gerufen hat. Die Betroffenen reagieren auf die physischen Mutationen sehr unterschiedlich. „Schmerzjunkies“ verschaffen sich Erleichterung, indem sie sich in dunklen Straßenecken gegenseitig Hautfetzen herausschneiden. Inspiriertere Zeitgenossen haben ihren Körper zum Kunstwerk erhoben.
Star dieser exklusiven Kunstszene ist der in Schwarz gewandete Saul Tenser (Viggo Mortensen) mit seiner Performance-Partnerin Caprice (Léa Seydoux), einer ehemaligen Trauma-Chirurgin, die in der sensiblen Künstlerseele tatsächlich einen Seelenverwandten gefunden hat. Ihre Body-Performances führt sie in prächtigen Abendgarderoben auf: Live-Operationen vor sektschlürfenden Kunstfans, bei denen sie mit Hilfe eines blinkenden Pods die Werkzeuge eines halborganischen Chirurgiestuhls bedient, um Sauls neue Organe entweder zu tätowieren oder ganz zu entfernen. Saul und Caprice sind sowas wie die Christo und Jeanne-Claude der Endzeit-Kunst.
Schon bei dieser Inhaltsangabe kann man kann sich die diebische Freude David Cronenbergs gut vorstellen. „Crimes of the Future“, der nichts mit seinem gleichnamigen Debütfilm von 1970 zu tun hat, zeugt bei aller Vertrautheit der Motive – und trotz allzu offensichtlicher Budgetbeschränkungen – immer noch von der Neugier des Regisseurs am Mensch-Technik-Komplex.
Dass die Menschheit sich ihres Müllproblems einfach durch evolutionäre Prozesse entledigt, ist eine so plausible wie originelle These – die Cronenberg selbst natürlich nicht ohne Ironie ausbreitet. Denn in seinem Kino geht es immer auch ans Eingemachte. So ist der offensichtlichste Bezug von „Crimes of the Future“ nicht etwa Bodyhorror à la „Scanners“ oder „Videodrome“, sondern die Maschinensexfantasie „Crash“: Cronenbergs Verfilmung des seinerzeit kontroversen Ballard-Romans, in dem die Menschen Amputationssex in Unfallautos haben.
Lustgewinn war bei Cronenberg schon immer eine Frage des richtigen Fetischs. Jedenfalls lässt Mortensens Gesichtsausdruck darauf schließen, dass der kalte Stahl in seinen wuchernden Eingeweiden nicht nur als künstlerische Geste zu verstehen ist. „Ist Chirurgie der neue Sex?“, fragt ihn nach einer Performance dann auch mit atemloser Stimme ein verhuschtes Groupie. Timlin (Kristen Stewart) arbeitet tagsüber für die NOR, nachts treibt sie sich in der Underground-Szene herum: Auch sie hat künstlerische Ambitionen.
(In sieben Berliner Kinos, auch OV/OmU)
Und das „neue Fleisch“, im Cronenberg-Kontext längst ein geflügeltes Wort, findet immer neue Ausformungen. Ein anderer Body Artist hat sich zum Distinktionsgewinn auf seinen ganzen Körper Ohren transplantieren lassen – ein weniger verstörender denn bizarrer Anblick. „Crimes of the Future“ mag in erster Linie Cronenbergs Zukunftsvision sein, er fungiert aber auch als Satire auf einen Kunstmarkt, der des Menschen ureigenste Ressource den Gesetzen des Kapitalismus aussetzt.
Eigentlich hatte sich Cronenberg ja bereits in den Ruhestand verabschiedet. Bei seiner Rückkehr beweist er nun auch noch eine neue, humoristische Ader, die viele Fans in seinem bis dato letzten Film, der Celebrity-Farce „Maps to the Stars“, noch irritiert hat. In „Crimes of the Future“ ist Cronenberg, schon immer ein Außenseiter in Hollywood, wieder ganz in seinem Element. Provokant wirkt sein Kino heute nicht mehr, man muss sich dieses Spätwerk eher wie eine Masterclass vorstellen. Dass sich neben seinem Stammschauspieler Viggo Mortensen auch eine jüngere Generation von Schauspielerinnen wie Léa Seydoux und Kristen Stewart für Bizarrerien wie „Crimes of the Future“ erwärmen kann, lässt darauf schließen, dass Cronenbergs visionäres Gesamtwerk vielleicht doch noch nicht museumsreif ist.
Der „Frühstücksstuhl“ mit seinen tastenden Gummiärmchen, der dem widerspenstigen Körper Sauls die „organische“ Nahrungsaufnahme erleichtern soll, hat sich hingegen schon jetzt einen Platz im Cronenberg-Museum verdient.
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