Du lebst nur zweimal
Das Ich stellt eines der ältesten Rätsel da. Schon seit Jahrtausenden versucht sich der Mensch an einer Beschreibung dessen, was ihn ausmacht. „Erkenne dich selbst“, forderte Platon, „Ich denke, also bin ich“, versuchte sich Descartes an einer Antwort, nur um sich von Rimbaud eine Absage erteilen zu lassen: „Ich ist ein anderer“, heißt es bei ihm. Was aber wäre, wenn dieses andere Ich tatsächlich vor einem stünde, wenn es leibhaftig die Herrschaft im eigenen Hause forderte?
Dieses Gedankenspiel liegt Hervé Le Telliers Roman „Die Anomalie“ zugrunde, für den der 1957 geborene Autor den Prix Goncourt gewann, den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs. Eine Boeing gerät in einen Sturm über dem Atlantik und landet glücklich an der amerikanischen Ostküste. Doch die Freude am Boden hält sich in Grenzen, denn dasselbe Flugzeug ist bereits vor drei Monaten gelandet. Die Insassen existieren nun zweimal, sie haben Doppelgänger. Die US-Behörden versuchen zunächst die Sache zu vertuschen, internieren die Klone und ziehen auch die Originale aus dem Verkehr. Doch wer ist hier Original und wer Kopie? Und wie konnte es zu diesem Wunder kommen?
Vielleicht hat es die Menschheit nie gegeben
Heerscharen von Mathematikern, Physikern, Psychologen und Theologen versuchen sich an einer Erklärung für das Unerklärliche. Die wahrscheinlichste Theorie stellt alles sicher Geglaubte infrage: Die verdoppelte Maschine könnte auf die titelgebende „Anomalie“ in einem Programm hinweisen, das die Weltgeschichte in verschiedenen Versionen durchspielt. Nicht nur die Passagiere und das Flugzeug, auch die Menschheit hätte es dann nie gegeben. Sie bestünde nur aus 7,9 Milliarden Avataren, gesteuert von einer höher entwickelten Lebensform. Alle Menschen, überhaupt alles, was existiert, wäre damit virtuell und die Verdopplung des Flugzeuges entweder ein Fehler im Code oder ein Spaß der gelangweilten Systemadministratioren.
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Le Tellier verfährt ihnen nicht unähnlich. Auch sein Roman ist eine Art Versuchsanordnung, in der er Angehörige der Wissenschaft, der Politik, der Medienindustrie und der Religion auf die Offenbarung reagieren lässt. Der US-Präsident, unschwer als Donald Trump zu erkennen, zeigt sich intellektuell überfordert mit der Situation, in Lagebesprechungen hält man ihn mit Star-Trek-Analogien bei Laune. Abgesandte der großen Religionen verzetteln sich in theologischen Disputen, während ihr Fußvolk Jagd auf die Doppelgänger macht, weil es in ihnen die Jünger Satans erkennt. Die Unterhaltungsbranche erhebt sie dagegen zu neuen Stars, US-Talkmaster Stephen Colbert sichert sich exklusiv den Auftritt einer Passagierin.
Alle machen weiter, als wäre nichts passiert
Darin liegt wohl die Pointe des Romans: Selbst im Angesicht seines Schöpfers, am Wendepunkt der Geschichte schlechthin, reagiert die Menschheit erwartbar, sie macht einfach weiter wie bisher. Oder wie es eine der Figuren, der Autor Victor Miesel, ausdrückt: „Nichts wird sich ändern. Wir werden morgens aufwachen, wir werden arbeiten gehen, weil wir weiterhin unsere Miete bezahlen müssen, wir werden essen, trinken, Liebe machen wie vorher. Wir werden weiterhin so handeln, als wären wir real. Wir sind blind für alles, was beweisen könnte, dass wir uns irren.“ Wollten die Aliens ihre Schöpfung also mit ihrer Offenbarung auf die Probe stellen, so reagiert sie im globalen Maßstab gelassen. Anders sieht es auf der individuellen Ebene aus. Ein Großteil des Buches widmet sich den Insassen der Maschine, ihrem Leben vor der Landung und ihren gespaltenen Existenzen danach.
Der Pilot liegt nach der Landung selbst sterbend in einem Krankenhausbett; ein Auftragskiller sorgt seiner Profession gemäß selbst für klare Verhältnisse, indem er „sich selbst“ auflauert und tötet. Victor Miesel stellt fest, dass er als einziger Passagier keinen Doppelgänger hat: Sein früheres Ich hat sich bald nach der Landung der ersten Maschine umgebracht. Ein Glücksfall für den erfolglosen Schriftsteller, weil ihm sein Vorgänger einen Bestseller hinterlassen hat. Alle anderen müssen sich bald darauf einstellen, ihre Lebenspartner, Jobs und Familien untereinander aufzuteilen. Eine Frau gibt im Kampf um ihren Mann klein bei, weil ihre Doppelgängerin schwanger von diesem ist; ein Mann erteilt seinem Alter Ego Ratschläge, wie er die Trennung von seiner Geliebten verhindern kann; zwei Mütter desselben Sohnes verhandeln über das gemeinsame Sorgerecht.
Eine triviale Geschichte, die philosophischer nicht sein könnte
Bedient sich der Roman im Mittelteil sehr unterschiedlicher Konventionen, vom Thriller über die Politsatire zur Science Fiction, gibt er sich am länglichen Beginn und zum Ende hin ganz der Seifenoper hin. Die Jury des Prix Goncourt lobte ausdrücklich dieses Spiel mit Genres und Registern, der Roman sei zugleich anspruchsvoll und unterhaltsam, hieß es zur Begründung ihrer Wahl. Umgekehrt ließe sich sagen, dass hier letztlich triviale Geschichten mit philosophischem Inhalt aufgewertet werden.
[Hervé Le Tellier: Die Anomalie. Roman. Aus dem Französischen von Jürgen Ritte. Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2021. 352 S., 22 €.]
Auch stilistisch gibt sich der Roman bescheiden, was verwundert. Le Tellier ist immerhin Präsident der Oulipo-Gruppe und steht damit in einer Tradition des formalen Experiments. Seine Prosa aber liest sich leicht weg und scheut nicht vor Schwulst zurück: „Ich liebe dich, ich werde dich immer lieben, und du wirst es wissen, denn ich werde, auf kuriose Weise, stets in deiner Nähe sein.“ Mon dieu! Man wünscht mitunter, ein anderer Autor würde Le Telliers Plot-Idee erneut aufgreifen. Es müsste dabei ja nicht unbedingt Literatur herauskommen, erst recht keine große. Stephen King könnte der Begegnung mit dem Anderen den angemessenen Horror verleihen, Frank Schätzing in Kontakt mit den außerirdischen Masterminds jede Menge Zeug in die Luft jagen. Einen Prix Goncourt bekämen sie dafür nicht, aber der Erkenntnisgewinn wäre auch nicht kleiner.