Letzter Aufruf nach Nirgendheim
Berlin-Tegel, Terminal B, Haupthalle. Die Anzeigetafel ist schwarz, seit November vergangenen Jahres sind weder Abflüge noch Ankünfte anzuzeigen. Die Betriebslizenz für TXL ist im Mai erloschen. Was wie ein Flughafen aussieht, ist nur noch funktionslose Architektur.
Ein Geisterhaus, an dem die Kräfte der Natur nagen. Draußen auf der Vorfahrt wachsen Kräuter in die Höhe. Tauben und Krähen haben die Lufthoheit übernommen. Drinnen in der Halle stehen Eimer. Der Flughafen Otto Lilienthal ist leck.
Leben gespenstert durch die Halle
Und doch gespenstert Leben durch die verwaiste Halle. Von Zeit zu Zeit huschen chaotische gelbe Pixel über die Anzeigetafel. Und dann ist da dieser Sphärenklang in der Luft. Ein Brummen von Propellern, das luftfahrttypische Sprechfunkgewirr zwischen Pilot und Tower und über allem das surreal anmutende Summen einer Frauenstimme, das aus den sonst sachliche Ansagen verbreitenden Lautsprechern dringt. Sie gehört der schottischen Klangkünstlerin Susan Philipsz.
„Ambient Air“ heißt die atmosphärische starke Klanginstallation der Turner-Preisträgerin, in der sie Brian Enos „Music for Airports“ summt. Und dort, wo jetzt auf einem Monitor der Super-8-Film läuft, der zeigt, wie sie in einem Kleinflugzeug über dem Flughafen Tegel kreist und die Geräusche für die Komposition aufzeichnet, da hat man früher vor Abflügen oft einen Kaffee getrunken.
Jedermanns persönliche Reiseerinnerungen sind dem Festival Sonambiente Berlin ebenso eingewebt wie die Melancholie von Räumen, die einer neuen Bestimmung harren.
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Vor den Bauarbeitern kommen die Künstler: Susan Philipsz, Blixa Bargeld, Soundpoet und Frontmann der Einstürzenden Neubauten, der nigerianische Soundinstallateur und Documenta-Teilnehmer Emeka Ogboh, der ebenso wie Philipsz mehr als einen Koffer in Berlin hat. Und Laurie Anderson, die ihren Virtual-Reality-Film „To the Moon“ gleich rechts neben der Haupthalle zeigt, aber pandemiebedingt nicht aus den Staaten anreisen kann.
Unter dem Motto „Final Boarding Call“ richten sie einen nachträglichen Abschied für den Flughafen aus, dessen von vielen betrauertes Ende wenig zeremoniell ablief.
Die dritte Ausgabe des bereits 1996 und 2006 als künstlerische Zwischennutzung an prominenten Orten wie dem Staatsratsgebäude, dem Postfuhramt oder dem Ostbahnhof veranstalteten Klangkunstfestivals, öffnet den ikonischen Bau von Volkwin Marg und Klaus Nickels ab diesem Sonnabend für zwei Wochen ein letztes Mal für das Publikum. Gleich nach der Bespielung beginnt der Umbau der denkmalgeschützten Räume in eine technische Hochschule.
Dass der Rückbau schon begonnen hat, zeigt sich beim Rundgang mit Susan Philipsz und den Festivalmachern Matthias Osterwold und Georg Weckwerth. Hier und da fehlen bereits Stuhlreihen und anderes Inventar. Doch flüchtig betrachtet wirkt alles, als könnten die Rollläden der Fluglinienschalter jederzeit hochgehen und die Gepäckbänder losrumpeln.
Auch Erbauer Volkwin Marg ist zu Gast
Ohne das Gewusel der Reisenden und ihren Geräuschpegel durch den puristischen, stillen Bau zu wandern und die Signatur der Siebziger einzuatmen, ist ein Erlebnis. Auch durch die Ausblicke auf das verwaiste Flugfeld und den Innenring, wo die Bühne für Live-Performances von Elektromusikerinnen wie Mieko Suzuki, Scanner, Electric Indigo und Künstlergespräche steht. Diesen Sonntag ist nachmittags auch Erbauer Volkwin Marg zu Gast, um ein Buch zu präsentieren.
Das wohl eindrucksvollste Gate B 320 im Terminal B, die sogenannte Nebel-Halle, ist mit ihrer grünblauen Deckenskulptur sicher nicht jedem bekannt. Den hohen Raum bespielt Emeka Ogboh mit seinen aus Flughafenatmo, neu produzierten Ansagen und an Dancetracks erinnernden Elektrosamples komponierten Sounds.
Der Weg von der Klangkunst zur Musik ist kurz. Kürzer als die Umrundung des Hexagons, die auf dem „Flughafen der kurzen Wege“ überraschend lang ausfällt. Zumindest, wenn man an jedem Schenkel des Sechsecks stehenbleibt um zu Warten wie Blixa Bargelds Auftragsarbeit für „einen Flughafen, den es nicht mehr gibt“ weitergeht, die im Umlauf erklingt.
Er kombiniert schwermütige Klavierakkorde und metallklirrende Glissandi mit lakonischen Unsinnsansagen zu einem Klangbild utopischer Reisen: „Wir bitten Herrn Ernst Bloch, gebucht auf Flug OO nach Nirgendheim, zum Check-in“ tönt es da und einige Minuten später folgt die Info „Der Zeppelin nach Spitzbergen parkt auf einer Außenposition“.
Erinnerungskapsel der Wiedersehensfreude
Da ist sie in der Verballhornung wieder: die Epochen vereinende Menschheitssehnsucht des Fliegens, die Tegel nebst allen zeitgeschichtlichen Anbindungen zu einem paradigmatischen Ort macht. Und zu einer Erinnerungskapsel der Wiedersehensfreude und der Abschiedstränen.
Blixa Bargeld selber findet sich – genau wie Philipsz und Ogboh – auf dem Festival zu einem Gespräch ein. Und ist darüberhinaus an diesem wie am kommenden Sonnabend mit einer Live-Intervention zu hören. Für dieses „Katastrophen-Intermezzo“ wird ein weiterer Track über die Komposition im Hexagon gelegt und der Künstler live zugeschaltet.
[Flughafen Tegel, Terminal A/B, bis 5.9., tgl. 12-18 Uhr, Programm, Zeitfenstertickets und Anreiseinfos: sonambiente.berlin]
Aber nicht von der Bühne, sondern aus den Flughafen-Katakomben, wo die Schaltzentrale der eigens für die Klangkunst in Betrieb gehaltenden Beschallungsanlage mit 1000 Lautsprechern liegt. „Der Künstler möchte nicht zu sehen sein und niemanden treffen“, sagt Georg Weckwerth beim Abstieg in den Untergrund.
Im Schaltraum stehen neben alten weitgehend ausgeweideten Elektroschränken schon ein Mikro für den Künstler und ein Monitor für den Tonmann bereit. Den Blick zur Uhr haben sich die Techniker weiland mit einem Pin-up-Girl versüßt. Was genau Blixa Bargeld live zu Gehör bringt, ist noch unbekannt. Anders als die Getränke, die er geordert hat, um die Künstlerkehle zu befeuchten. Frisches Eis und einen sehr guten österreichischen oder französischen Weißwein. Da fehlt nur noch die Stewardess.