Dreierkette in der Abwehr oder doch zu viert verteidigen?
Toni Kroos hat es in vielen Disziplinen zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. Seine Kritiker behaupten: vor allem in der Kunst des risikofreien Querpasses. Aber das ist natürlich Quatsch. Der Fußballer Kroos verfügt über viele Stilmittel. Außerdem ist er ein Meister der provokativen Gegenfrage. Im Trainingslager der deutschen Nationalmannschaft ist der Mittelfeldspieler von Real Madrid dieser Tage gefragt worden, ob er die Dreierkette eigentlich kritisch sehe; immerhin gehe bei diesem System ein Platz im zentralen Mittelfeld verloren. „Ist das so?“, fragte Kroos zurück. Ähem, ja. „Das sehe ich anders.“
Müller oder Seeler? Netzer oder Overath? Lahm im defensiven Mittelfeld oder doch als Rechtsverteidiger? Vor vielen großen Turnieren gab es eine alles beherrschende Frage, über die mit großem Eifer diskutiert wurde. Aktuell ist es die Debatte, ob Joachim Löw für die Europameisterschaft die Variante mit drei (respektive fünf) Verteidigern in letzter Linie bevorzugt oder doch die mit vier. Zuletzt ließ der Bundestrainer eine deutliche Präferenz für die Dreierkette erkennen. Er habe darin „ein größeres Potenzial gesehen, gerade im Zentrum Kompaktheit zu entwickeln“, erklärt Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft.
Seitdem die „Bild“-Zeitung in dieser Frage über revolutionäre Tendenzen innerhalb der Mannschaft gegen Löws Idee berichtet hat, wird das Thema mit großer Zurückhaltung behandelt. „Ob Dreierkette oder Viererkette, das ist völlig unerheblich“, hat Löw zum Abschluss des Trainingslagers in Seefeld und vor dem finalen EM-Test an diesem Montag gegen Lettland (20.45 Uhr, live bei RTL) gesagt. Nach dem Anpfiff sei heutzutage ohnehin alles unheimlich flexibel und dynamisch.
Löw hat seit der enttäuschenden WM 2018 beide Systeme ausprobiert. Zuletzt schien sich die Viererkette als favorisierte Variante herauszukristallisieren – auch weil dadurch Platz für einen weiteren zentralen Mittelfeldspieler entsteht. Dass der Bundestrainer sich nun aber wohl anders entscheidet, könnte mit den Gegnern bei der EM zu tun haben. Die Deutschen treffen in München zunächst auf Weltmeister Frankreich, dann auf Titelverteidiger Portugal – zwei offensivstarke Mannschaften also.
Links hinten hat Löw Optionen, rechts hingegen hat sich noch keine Idealbesetzung gefunden
„Der offensichtlichste Vorteil ist, dass man einen Innenverteidiger mehr auf Platz hat und dadurch im Idealfall eine größere Kompaktheit herstellen kann“, sagt Linksverteidiger Robin Gosens über die Dreier-/Fünferkette. Ein weiterer Aspekt ist das Personal, das dem Bundestrainer zur Verfügung steht. Die potenziellen Linksverteidiger Gosens, Marcel Halstenberg und Christian Günter sind aus ihren Vereinen eher Dreier-/Fünferkette gewohnt und entsprechend offensiv orientiert. „Ich bin ein dynamischer Schienenspieler“, sagt Gosens, der wohl die erste Wahl für diese Position ist.
Für die rechte Seite hat sich noch keine ideale Besetzung gefunden. Lukas Klostermann konnte beim Test gegen Dänemark eher nicht für sich werben, und Matthias Ginter geht als gelerntem Innenverteidiger der Offensivdrang ein wenig ab. Selbst Joshua Kimmich, zuletzt als Sechser gesetzt, ist plötzlich wieder eine Option.
In Seefeld hat Löw zudem vermehrt Jonas Hofmann auf dieser Position ausprobiert. „Ich trainiere mich da quasi ein“, hat der Offensivspieler von Borussia Mönchengladbach berichtet, dem die meisten wohl nicht einmal einen Platz im Spieltagskader zutrauen. „Alles, was auf dieser Position verlangt wird, könnte ich ganz gut umsetzen.“
So eindeutig, wie es suggeriert wurde, ist das Stimmungsbild pro Viererkette im Team jedenfalls nicht. „Der Vorteil der Viererkette ist: Jeder kennt sie“, sagt Antonio Rüdiger, der mit dem FC Chelsea als linker Mann einer Dreierkette gerade die Champions League gewonnen hat – und dessen Wort auch in der Nationalmannschaft deutlich an Gewicht gewonnen hat. Die Dreier- oder Fünferkette könne man variabel spielen, findet er. „Wenn mein Mann ins Mittelfeld geht, gehe ich mit. Dann sind wir automatisch keine Fünferkette mehr; dann sind wir eine Viererkette“, sagt Rüdiger. „Es ist nicht so, dass man zu fünft auf einer Linie steht. Wenn es so ist, dann haben wir etwas falsch gemacht.“
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Löw will gerade mit Blick auf die Gruppenspiele gegen Frankreich und Portugal mehr defensive Stabilität. „Wir müssen einfach weniger Chancen zulassen“, sagt Oliver Bierhoff. „Bei einem Turnier kannst du es dir nicht erlauben, einem Rückstand hinterherzurennen.“ Aber das hängt nicht nur damit zusammen, wie viele Spieler in letzter Linie verteidigen; es hängt vor allem damit zusammen, wie die Mannschaft als Mannschaft verteidigt.
Dass die Dänen unter der Woche im Testspiel noch das 1:1 erzielten, lag weniger daran, dass die Nationalmannschaft mit einer Dreierkette verteidigte. Es lag daran, dass Christian Eriksen nach einem Ballverlust der Deutschen tief in der dänischen Hälfte im zentralen Mittelfeld 40 Meter freie Fläche vor sich hatte und vollkommen unbehelligt den Pass auf den Torschützen Yussuf Poulsen spielen konnte.