Die schmerzhafte Sehnsucht des VfL Bochum
Es ist der 8. Mai 2010. Der VfL Bochum steht vor dem letzten Bundesliga-Spieltag auf dem vorletzten Tabellenplatz und kann mit einem Sieg die Klasse aus eigener Kraft halten. Voraussetzung dafür: Ein Heimsieg gegen das um zwei Punkte besser dastehende Team von Hannover 96. Es wird ein Debakel.
Durch Tore von Arnold Bruggink, Mike Hanke und Sergio Pinto ist der VfL bereits zur Halbzeit dem Abstieg geweiht. Bochumer Fans, die das Spiel im Stadion erlebten, werden die leeren Gesichter und den fast kollektiven Schockzustand im Ruhrstadion nicht vergessen.
Als 96-Fan Oliver Pocher nach dem Schlusspfiff mit dem Hannoveraner Team ausgiebig den Klassenerhalt auf dem Rasen feiert, sind die letzten VfL-Herzen gebrochen. Es soll für mindestens elf Jahre das letzte Spiel des kleinen Ruhrpott-Klubs im Oberhaus sein.
Am 23. Mai 2021 hat es der VfL erneut in eigener Hand, diesmal reicht sogar ein Punkt gegen den SV Sandhausen, um das Happy End zu feiern. Verliert Bochum nicht, ist die Rückkehr in die Bundesliga perfekt. Und auch bei einer Niederlage müssten die Konkurrenten aus Kiel und Fürth gewinnen, um vorbeizuziehen.
Seit dem 23. Spieltag steht der VfL ununterbrochen auf Rang eins, die Aufbruchstimmung könnte größer nicht sein. In den vergangenen beiden Wochen, sowohl beim Heimspiel gegen Regensburg, als auch beim verpassten ersten Matchball in Nürnberg, waren die Hupkonzerte der Bochumer Fans vor den Stadien für keinen TV-Zuschauer zu überhören.
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Es ist nicht auszumalen, was im Stadion an diesem entscheidenden Spieltag los wäre. Die VfL-Fans sind für ihre Extreme bekannt: Läuft es nicht, pfeifen sie auch schon mal nach fünf Minuten. Doch läuft es, tragen sie den Ball schon irgendwie dahin, wohin ihn das Team braucht.
Was sie antreibt, ist die schmerzhafte Sehnsucht nach Bundesliga-Fußball. Und wer diese Sehnsucht verstehen will, muss nur mit einem langjährigen VfL-Fan über Hannover reden. Seit dem erstmaligen Aufstieg 1971 war Bochum nie länger als ein Jahr in der Zweiten Liga.
So wäre es auch 2010/11 fast geschehen, wenn nicht Mönchengladbach den VfL in der Relegation knapp besiegt hätte. Seitdem war Bochum der Dritten Liga beinahe genauso nah wie der Bundesliga. Einmal, 2014, gerettet von Trainerlegende Peter Neururer, einmal, 2016, als Fünfter zumindest nicht weit weg von der Rückkehr.
Trainer Thomas Reis trägt die Bochumer Sehnsucht am rechten Fleck
So gut wie jetzt passt es aber seit der Spielzeit 2010/11 nicht mehr zusammen. Der Hauptgrund dafür ist der Trainer, der die Bochumer Sehnsucht nach der Bundesliga am rechten Fleck trägt. Thomas Reis spielte mit dem VfL in den 1990er-Jahren noch im Uefa-Cup, war während des besagten Hannover-Spiels 2010 Scout in der Nachwuchsabteilung des Vereins und kam 2019 als Trainernovize im Profifußball nach Bochum zurück.
Reis führte den VfL erst ins sichere Mittelfeld, ehe er aus der Mannschaft bis zum Ende der zweimonatigen Corona-Pause im Mai 2020 eine echte Spitzenmannschaft formte. Seitdem holte keine Mannschaft in der Zweiten Liga mehr Punkte als der VfL. Die Grundlage dafür ist eine stabile Achse – mit Typen wie Reis, die auch den letzten fremdelnden Fan zurückholte.
Manuel Riemann ist so einer. Er mauserte sich vom Wackelfuß zum wohl besten Torhüter der Zweiten Liga. Riemann gehört wie der mit 15 Toren beste Torjäger Simon Zoller der lauten Fraktion in der Mannschaft an.
Sie sorgen dafür, dass ruhigere Vertreter wie der 35-jährige Kapitän Anthony Losilla und auch der Ex-Unioner Robert Zulj in Ruhe ihre Arbeit verrichten können. Losilla, einer der laufstärkste Spieler der Liga, Zulj, der zweitbeste Scorer im Unterhaus.
Dass ausgerechnet Riemann in der entscheidenden Phase der Saison mit einem Mittelhandbruch ausfällt, schmerzt nicht nur ihn und seine Mitspieler, sondern vor allem die Fans. Er, der personifizierte VfL in der finalen Saisonphase, sagte jüngst in einem Interview, er wolle dabei sein am letzten Spieltag, um „beim Schlusspfiff auf dem Platz zu stehen, wenn die ganze Last der Saison von einem abfällt“.
Wer genau hinhört am Sonntag, wird ihn wieder von der Tribüne schreien hören. Er, der hautnah miterleben wird, wie zahlreiche Bochumer vor dem Stadion hupen und beten werden, dass die qualvolle Sehnsucht wieder Realität wird.