Welt aus Fäden: Olga de Amaral zeigt ihr textiles Werk in der Fondation Cartier

Das Nichts ist genauso wertvoll wie die Stoffstücke, mit denen Olga de Amaral die Zwischenräume füllt. Die kolumbianische Künstlerin braucht weder Leinwand noch Keilrahmen, ihre Kunst entsteht im Leeren, hängt frei im Raum und wirft teils dramatische Schatten auf den Boden.

Die Fondation Cartier in Paris reagiert auf dieses singuläre Werk mit einer grandiosen Inszenierung. Im Untergeschoss des privaten Ausstellungshauses ist das Licht gedämpft, die textilen Werke schimmern wie aus Gold oder Silber gemacht – selbst wenn sie mitunter aus geflochtenem Plastik sind.

Es handelt sich um die erste große Soloschau der inzwischen 92-jährigen Künstlerin in Europa. Obgleich sie in den 1950er Jahren in Michigan studierte, später kurz in New York lebte und in Museumssammlungen von Chicago über Kyoto bis Paris vertreten ist, war sie hier lange eine große Unbekannte. Im New Yorker MoMA nahm Amaral schon 1969 zusammen mit Annie Albers und Sheila Hicks an der Ausstellung „Wall Hangings“ teil, zwei Jahrzehnte später gelang ihr der Auftritt zur Biennale von Venedig.

Der Anspruch der Künstlerin

Vorbehalte mögen, wie so oft in der Vergangenheit, mit der gewählten Technik zusammenhängen: Textiles und Weben werden im europäischen Kontext immer noch als nachgeordnetes Medium der Kunst gesehen. Skulptur und Malerei gehen vor – dabei ist beides bei Amaral präsent.

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Ihr gestischer Duktus ist das Flechten oder Weben, die Techniken werden mit jedem Jahrzehnt ausgefeilter. Farben liefern die Textilien selbst. All das macht sie jenen abstrakten Bildern ähnlich, mit denen sich die Künstlerin während ihres ersten Aufenthalts in den USA um 1955 beschäftigte. Zurück in Kolumbien, kombinierte sie ihre experimentellen Erfahrungen mit dem traditionellen textilen Wissen ihrer Heimat. Landschaftsmotive treten an die Stelle europäischer Farbfeldmalerei, aber das muss man wissen: Visuell gleichen sich beide Richtungen.

Allein die Hängung in der Fondation Cartier macht den Anspruch der Künstlerin deutlich. Ein Teil der Werke hängt in chronologischer Reihenfolge an den Wänden, der andere schwebt an unsichtbaren Fäden von der Decke. Diese Arbeiten strukturieren den Raum: Man läuft sie ab, sieht Vorder- wie Rückseiten und das Licht, das bei locker gewebten oder geflochtenen durch die Muster scheint.

Gold, Silber, Rosshaar

So entsteht eine magische Atmosphäre. Olga de Amaral bringt alles zum Tanzen. Die glänzenden Oberflächen zerfallen wie Mosaiken in Tausende Gold- und Silberfragmente, Rosshaar und andere Materialien verschränken sich komplex in mehreren Schichten, bevor sie als lange Fransen am Boden enden. Manche Werke verjüngen sich, werden voluminös und wieder flach, andere besitzen die farbliche Intensität eines Sonnenuntergangs.

Im oberen Ausstellungsbereich, den der französische Architekt Jean Nouvel wie ein gläsernes Aquarium konzipiert hat, das sich nach außen öffnet und in dessen Scheiben sich zugleich der Garten der Stiftung spiegelt, wachsen die Objekte ins Monumentale. „Muro en rojos“ von 1982 erinnert an ein Dach aus unzähligen, hauchdünnen Schindeln in diversen Rottönen. Die Arbeit misst locker über acht Meter und wird zum ersten Mal außerhalb Kolumbiens gezeigt.

Im Untergeschoss der Stiftung werden die textilen Kunstwerke wie historische Schätze präsentiert.

© Fondation Cartier / Cyril Marcilhacy / VG Bildkunst, Bonn 2024

Auf andere Weise eindrucksvoll sind die „Nebel“-Skulpturen der Künstlerin. Amaral baut sie aus von der Decke hängenden Rechtecken, von denen farbige Fäden in unterschiedlicher Länge hängen. Sie formen dreidimensionale Vorhänge, werden mit Gips verstärkt und teils noch einmal in Signaltönen eingefärbt. Das Ergebnis sind scheinbar schwerelose Arbeiten, deren geometrische Motive betörend leuchten.

Die Ausstellung mit ihren gut 80 Exponaten übersteigt jede Erwartung, was den Umgang und die vielfältige Interpretation von textilen Geweben anbelangt. Was für ein sinnlicher Abschied vom Standort Boulevard Raspail! Mit Olga de Amaral schließt die Fondation Cartier ihr langes Kapitel im Montparnasse und wechselt in absehbarer Zeit in die von Nouvel umgebauten Räume direkt am Louvre.

1984 war sie die erste französische Unternehmensstiftung für zeitgenössische Kunst. Heute konkurrieren mit François Pinault, der 2021 mit der umfunktionierten Bourse de Commerce seinen eigenen Ausstellungspalast eröffnete, und Bernard Arnault gleich zwei Megasammler in Paris um die Gunst der Besucher. Da hat es Nachteile, eine so intime, gleichzeitig aber etwas abgelegene Adresse nahe dem Friedhof Père Lachaise zu bespielen. Etwas mehr Trubel gefällt ganz sicher auch dem neuen Direktor der Fondation Cartier: Chris Dercon, in Berlin vor einigen Jahren ziemlich kurz und glücklos Intendant der Volksbühne, kann hier künftig aus dem Vollen schöpfen und neben großen Wechselausstellungen endlich auch die Sammlung der Stiftung zeigen.