„Die Ost-Prägung ist stärker, die wird man nicht los“: André Kubiczek über Ost und West 35 Jahre nach dem Mauerfall
Herr Kubiczek, was verbinden Sie mit dem Begriff „Oststolz“?
Es hört sich genauso dämlich an, als wenn jemand sagt, er sei stolz darauf, Deutsch zu sein oder einen Migrationshintergrund zu haben. Der Schlachtruf „Ost, Ost, Ostdeutschland” kommt ja eigentlich aus dem Fußball. Dynamo Dresden hat eine einstudierte Choreografie, wo sie „Ost, Ost, Ostdeutschland“ schreien und dann immer im Takt hin- und herhüpfen, untergehakt auf den Rängen. Das ist wie ein Stammesgesang, um den feindlichen Stamm abzuschrecken. Schon beeindruckend, aber auch erschreckend.
Wie erklären Sie sich das, dass gerade der Osten heute wieder zum Stampfen geeignet ist?
Das hat etwas von dem Trotz eines unbeachteten Kindes.
Sind die Ossis das denn: unbeachtete Kinder in Deutschland?
Sie fühlen sich so. Wir leben aber in einer Zeit, in der es ganz viele unbeachtete Kinder gibt, zum Beispiel auch die ganzen migrantischen Gruppen in Neukölln und Wedding. Auch die ziehen sich quasi auf ihren Stamm zurück. Wie diese „betonten Ossis“ auch.
Wer sind die „betonten Ossis“?
Die, die stolz darauf sind. Und es ist oft die Generation, die den Osten gar nicht erlebt hat, durch die Bundesrepublik geprägte Menschen. Ich habe mich gefragt: Wann muss man geboren sein, um noch eine richtige Ostsozialisation mit allen Tiefen zu haben? Ich würde das bei mir selbst beim Wehrdienst ausmachen. Das war ja im Grunde das, worin eine männliche DDR-Jugend kulminierte: Wie verhält man sich zum Wehrdienst? Alle, die danach geboren sind, haben das eigentlich nicht richtig auskosten müssen.
Und trotzdem ist das Ostbewusstsein bei den nach 1989 Geborenen derzeit am größten.
Das ist die Überlieferung durch die Elterngeneration oder Großelterngeneration. Da werden Mythen gebastelt, die zum Teil sogar stimmen. Diese Erinnerungen sind ja nicht alle rosarot. Das sind dann oft die Erzählungen derer, die schon zu DDR-Zeiten eher unangepasst waren. Die Leute, die zu DDR-Zeiten eher ein normales Leben hatten, in dem sich der Staat immer gekümmert hat, erzählen etwas anderes. Und das ist der große Unterschied zu heute: Der Staat kümmert sich nicht mehr um seine Leute. Ich empfinde das auch so. Das kann man als Teil der Freiheit oder als Vernachlässigung interpretieren.
In der DDR ging es in jeder verfluchten Nachrichtensendung ging es um das Wohnungsbauprogramm. Heute fehlen Wohnungen.
André Kubiczek, Autor
Was meinen Sie, wenn Sie sagen: Der Staat kümmert sich nicht?
Soziale Absicherung, Wohnraum schaffen. Das war in der DDR das Thema, das einem richtig auf die Nerven ging: In jeder verfluchten Nachrichtensendung ging es um das Wohnungsbauprogramm. Heute fehlen Wohnungen. Die Leute, die das miterlebt haben, geben das an ihre Nachkommen weiter. Dabei geht es auch um Schule oder Infrastruktur. Zu DDR-Zeiten ist die Infrastruktur auch zerfallen, aber das lag daran, dass kein Geld da war.
Die Erfolge extremer Parteien, ein Resultat von Vernachlässigung?
Absolut. Wenn das Leben teurer wird, dann geht es den Leuten schlechter. Dann erinnert man sich an Zeiten, in denen es einem besser ging. Ein weiteres großes Geheimnis, warum die DDR funktioniert hat: Weil alle relativ gleich waren. Es gab nicht diese krassen Unterschiede zwischen ganz Armen und ganz Reichen wie heute. Arbeiter, Akademiker, Ärzte und Ingenieure haben in diesen Neubauaufgängen zusammengelebt.
Ihnen fehlt ein Akt der Selbstverständigung, ohne Interventionen aus dem Westen?
Das ist, als wenn Kinder in der Schule diskutieren. Sobald es ein bisschen heftiger wird und einer laut wird, sagt die Lehrerin: Jetzt ist Ruhe. Und dann erklärt sie, wie es wirklich ist.
Haben Sie das Gefühl, dass noch Dinge gesagt werden müssten?
Wo wir ansetzen müssen: Bei der Abwicklung der Industrie, da sitzt ja im Grunde der Stachel. Damals habe ich noch gesagt: Selber schuld, hättet ihr am 18. März 1990 mal was anderes gewählt. Diese Schadenfreude hat sich eine ganze Weile gehalten. Später kam die Agenda 2010, die aus dem Arbeitslosenhilfeempfänger Sozialhilfeempfänger gemacht hat. Gerhard Schröder hat damals stolz verkündet, aus Deutschland den größten Billiglohnmarkt der EU gemacht zu haben. Dadurch ist die SPD ruiniert worden. Bis dahin habe ich immer SPD gewählt. Das werde ich so schnell nicht wieder tun.
Man könnte auch sagen: Der Stachel sitzt früher, bei der versäumten Möglichkeit, die DDR-Leute ihre Demokratie selbst wieder aufbauen zu lassen.
Ich habe 1990 diesen ersten Wahlkampf für die Vereinigten Linken mitgemacht. Unser Büro war im Lindenhotel, wir waren befreundet mit den Leuten von den DDR-Grünen und dem Neuen Forum, alles frisch entstanden. Einige der ehemaligen Bürgerrechtler stehen heute weit rechts, vor allem in Sachsen, obwohl sich ihre damalige Haltung nicht geändert hat. Die werden jetzt behandelt wie Parias. Stattdessen tut man so, als wären smarte Leute wie Angela Merkel und Joachim Gauck die wirklichen Widerständler im Osten gewesen.
Wenn die Leute ausreichend Rente bekommen, dann hissen sie auch keine Reichskriegsflaggen.
André Kubiczek
Den 9. November selbst haben Sie beim Militär erlebt, richtig?
Ich musste eigentlich noch die drei Jahre voll machen. Aber plötzlich konnte man einen Antrag auf frühere Entlassung stellen, also kam ich im Januar raus und trat in die Vereinigte Linke ein. Wir haben Straßenwahlkampf gemacht, Pamphlete geschrieben.
Das erste große, basisdemokratische Treffen im Kino Friedrichshain war, wie man sich einen Parteitag der Grünen in den 70er-Jahren vorstellt. Ein Haufen Gelaber und nichts kam raus. Hat aber großen Spaß gemacht. Relativ schnell kam aber das Gefühl auf, dass wir keine Chance haben. Nicht mal die neuen DDR-Grünen oder das Neue Forum hatten eine. Entsprechend groß war die Frustration. Die Übermacht der Allianz für Deutschland, mit Propagandamaterial und Geld aus dem Westen, war zu groß.
Haben Sie sich jemals geschämt, aus dem Osten zu sein?
Ich dachte eine ganze Weile, ich wäre einer der ersten Hybriden aus Ost und West. Dass das nicht stimmt, habe ich erst in den letzten zehn Jahren gemerkt. Die Ost-Prägung ist stärker, die wird man nicht los. Das arbeitet subkutan in einem.
Was an Ihnen ist heute noch ostdeutsch?
Im Grunde vieles. Zum Beispiel das Denken, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, dass die materielle Verfasstheit das Wichtigste ist. Dass ich denke: Wenn die Leute ausreichend Rente bekommen, dann hissen sie auch keine Reichskriegsflaggen. Als ehemaliger DDR-Bürger trete ich immer ein Stück zurück, um die Dinge zu betrachten. Ich fechte keine Kämpfe im Namen einer Ideologie aus. Ich wechsle meine Haltung zu politischen Ereignissen. Ich finde nicht, dass man sich für eine von zwei verfeindeten Seiten entscheiden muss.
Das DDR-Erbe: eine Art grundsätzliche Ideologiekritik?
Vielleicht. Wenn man in der DDR die „Aktuelle Kamera“ geguckt hat, dann ist man immer davon ausgegangen, dass die einen anlügen. Das hat sich bei vielen gelernten DDR-Bürgern gehalten.
Ihre Tochter ist heute 21. Betrachtet sie sich noch als ostdeutsch?
Nein. Ihre Mutter ist aus dem Westen und ich werde einen Teufel tun, ihr irgendwas einzuimpfen.
Werden Ost-West-Unterschiede in 50 Jahren noch eine Rolle spielen?
Das glaube ich nicht. Dann sind wir wieder alle gleich arm.