Unser Schmerz, euer Schmerz: Wie der Nahost-Krieg die Comicszene erschüttert und entzweit
Dieser Beitrag ging vielen Mitgliedern der „Strapazin“-Redaktion zu weit. Das vor 40 Jahren in München gegründete und heute in Zürich ansässige Comicmagazin ist bekannt dafür, gezeichnete Kurzgeschichten zu aktuellen Themen abzudrucken, die stilistisch und thematisch innovativ sind, gelegentlich auch provokant.
Der vor einigen Wochen mit der ägyptischen Künstlerin Mai Koraiem vereinbarte fünfseitige Kurzcomic mit dem Titel „Genozid“ überschritt jedoch die Grenze dessen, was das 20-köpfige Herausgeber-Team der Zeitschrift akzeptabel für das aktuelle Schwerpunktheft zum Thema „Arabische Comics“ fand.
In ihrem Beitrag, der in voller Länge auf ihrer Instagram-Seite zu sehen ist, thematisiert Mai Koraiem mit skizzenhaften Bildfolgen die große Zahl der zivilen Opfer, die in den vergangenen Monaten bei dem israelischen Militäreinsatz im Gazastreifen getötet wurden.
Auf der letzten Seite hat sie ein Fahndungsplakat gezeichnet, auf dem unter der Überschrift „Gesucht wegen Mordes und Völkermordes“ drei Gesichter zu sehen sind: Adolf Hitler, Benjamin Netanjahu und Joe Biden. Darunter die Fingerabdrücke der Regierungschefs Israels und der USA, in denen die Hautrillen mit Hakenkreuzen durchsetzt sind.
Dieser Comic ist einer von zwei Beiträgen für das aktuelle „Strapazin“, die „einem Teil meiner Mitherausgeber*innen zu extrem erschienen, was ich sehr bedaure“, wie der verantwortliche Redakteur Christoph Schuler im Vorwort des vor einigen Tagen veröffentlichten Hefts schreibt.
Der Entscheidung vorausgegangen war eine lange Diskussion auch mit der Künstlerin, wie man auf Mai Koraiems Instagram-Kanal nachlesen kann. Wie die Zeichnerin dort schreibt, hat sie noch versucht, die Gleichsetzung von Hitler und Netanjahu/Biden abzuschwächen, was aber an der Entscheidung des Herausgeber-Teams gegen ihr Werk nichts mehr änderte.
Die westliche Gemeinschaft ist immer noch der Meinung, dass das, was passiert, kein ethnischer, kollektiver und religiöser Völkermord ist.
Mai Koraiem, Comiczeichnerin aus Ägypten
„Die westliche Gemeinschaft ist immer noch der Meinung, dass das, was passiert, kein ethnischer, kollektiver und religiöser Völkermord ist und dass eine solche Geschichte nicht in Europa und Deutschland veröffentlicht werden kann“, schreibt die Künstlerin auf Instagram zu der Ablehnung.
Der aktuelle Vorfall zeigt anschaulich, wie die Eskalation der Gewalt in Israel und dem Gazastreifen seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem Beginn der darauffolgenden israelischen Militäroperation im Gazastreifen auch die Comicszene zunehmend polarisiert. Und wie dabei gelegentlich die Grenzen zwischen der Verurteilung des Vorgehens der israelischen Regierung und der Relativierung des Völkermords an den europäischen Juden durch die Nationalsozialisten verschwimmen.
Der zweite Beitrag, der in der „Strapazin“-Redaktion kontroverse Reaktionen auslöste und letztlich abgelehnt wurde, stammte ebenfalls aus Ägypten. Der Zeichner Mohamed Salah zeichnet in seinem auf Instagram nachzulesenden Kurzcomic unter dem ironischen Titel „Palästina, ein unkompliziertes Thema“ die Geschichte der Region mit karikierendem Strich und explizit aus palästinensischer Sicht nach.
In seinem Beitrag lehnt er nicht nur das Existenzrecht Israels ab, sondern bezeichnet auch den Gazastreifen als „Konzentrationslager“ und vermittelt nebenbei ein heroisches Bild von fanatischen Israelfeinden wie der islamistischen Terrorgruppe Hamas.
Ein dritter Beitrag zum Thema schaffte es dann doch noch in die aktuelle „Strapazin“-Ausgabe – „trotz aller Anfeindungen“, wie Redakteur Christoph Schuler im Vorwort des Hefts anmerkt. In dem Kurzcomic „Es geschieht alles so schnell“ zeichnet die in Beirut lebende Künstlerin Lena Merhej in einer Art grafischem Tagebuch nach, wie sie die Nachrichten aus Gaza aufnimmt.
Dabei kombiniert sie stilisiert gezeichnete Elemente von Szenen aus dem Kriegsgebiet mit Impressionen aus ihrem Alltag und vermittelt dabei deutlich, auf welcher Seite sie sich sieht. „Die Alliierten, der Westen, die USA, Israel, GB, Deutschland, Frankreich, Europa“, heißt es an einer Stelle, „mit ihren Waffen. Alle gegen uns.“
Am Schluss verknüpft sie dann Nachrichten-Versatzstücke zu den zivilen Opfern des Gazakrieges mit Szenen von Demonstrationen gegen Israel und dessen militärischem Vorgehen, was am Schluss in der Zeile endet: „Ich werde zur Widerstandskämpferin“.
Ähnlich wie in vielen anderen Bereichen der internationalen Kulturszene gibt es auch in der internationalen Comicszene aktuell ein großes Bedürfnis, sich im aktuellen Nahostkrieg nicht nur als Beobachter oder künstlerischer Chronist zu verstehen, sondern sich eindeutig zu positionieren und Partei zu ergreifen. Nuancierte, abwägende oder mehrere Perspektiven vermittelnde Beiträge sind dabei in der Minderzahl.
Empathie für die Opfer auf beiden Seiten ist selten
Dabei fällt auf, dass die meisten Zeichnerinnen und Zeichner derzeit den Fokus fast exklusiv entweder auf die palästinensische oder auf die israelische Perspektive legen, je nach biografischem Hintergrund und politischer Positionierung. Die Versuche, die Positionen und Erfahrungen beider Seiten zu reflektieren, sind dagegen sehr rar.
Viele Comicschaffende nehmen seit dem 7. Oktober primär das Leid auf der einen Seite wahr, vermitteln aber in ihren Arbeiten wenig Empathie für die Opfer der anderen Seite. Künstlerische Stimmen, die versuchen, unterschiedliche Perspektiven auf das Thema zu vermitteln, politische Akteure auf beiden Seiten zu kritisieren und Mitgefühl mit den Menschen und den zivilen Opfern unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zur einen oder zur anderen Gruppe zu vermitteln, sind selten, wenngleich es sie gibt.
Oft ist die Perspektive durch eigene biografische Erfahrungen geprägt. Zum Beispiel im Fall des palästinensischen Zeichners Mohammed Sabaaneh. Er hat sich international unter anderem mit der Graphic Novel „Power Born of Dreams: My Story Is Palestine“ einen Namen gemacht.
Sabaaneh lebt in den Palästinensischen Autonomiegebieten im Westjordanland und veröffentlicht fast täglich Karikaturen und Kurz-Comics zur aktuellen Lage, die er mit seinen fast 500.000 Followern auf Facebook und Instagram teilt, in mehreren Publikationen im Westjordanland und im Ausland veröffentlicht und die über Seiten wie „Cartoon Movement“ zusätzliche internationale Aufmerksamkeit bekommen.
In seinen aktuellen Arbeiten prangert Sabaaneh in teils semirealistischen und teils karikaturhaft überzeichneten Bildern das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen, die vielen zivilen Opfer und die eskalierende humanitäre Katastrophe an. Bislang sind nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Behörden im Gazastreifen mehr als 30.000 Menschen in Folge des Krieges gestorben.
Wenn es um den Auslöser der aktuellen Gewaltwelle geht, den Terroranschlag der Hamas in Israel mit mehr als 1200 Toten und 240 Entführten, lässt der Zeichner jedoch kein Mitgefühl für die Opfer jenes Tages erkennen. Auch Kritik an der Hamas ist bei ihm kein Thema.
Den 7. Oktober verarbeitete Mohammed Sabaaneh in zwei Bildern, die klar vermitteln, wo er sich positioniert. Das eine zeigt eine Welle, die ein Boot verschlingt: Auf dem Boot steht ein einziger israelischer Soldat, die Welle besteht aus vielen maskierten Figuren, was eine offensichtliche, heroisierende Analogie zum Überfall der Hamas auf israelische Siedlungen ist.
Das zweite Bild, veröffentlicht am Tag nach dem Terrorangriff, besteht aus drei Bildern: Das erste zeigt ein weinendes Auge, im zweiten verändert die Träne ihre Form, im dritten Bild ist daraus ein Gleitschirm geworden, an dem eine Figur so durch die Luft segelt, wie es einige Hamas-Angreifer am 7. Oktober gemacht haben.
Die Sequenz macht deutlich: Der Zeichner sieht den Terrorangriff als legitime Antwort auf palästinensisches Leid aus der Zeit vor dem 7. Oktober, die Toten jenes Tages spielen für ihn keine Rolle. Dies ist eine Perspektive, die sich in vielen Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern mit arabischen Wurzeln oder pro-palästinensischer Überzeugung wiederfindet.
Sie sehen den 7. Oktober nicht als zwar historisch einzuordnendes, aber dennoch singuläres Massaker einer islamistischen Terrororganisation, dem vor allem viele unschuldige Zivilisten zum Opfer fielen. Stattdessen wird hier das auch in der internationalen Linken weit verbreitete Narrativ vermittelt, dass der 7. Oktober lediglich eine Reaktion auf die jahrzehntelange Unterdrückung des palästinensischen Volkes durch israelische Besatzer sei und daher als ein legitimer Teil eines antikolonialen Befreiungskampfes anzusehen sei.
Ein Zeichner, der bereits seit mehr als 20 Jahren die verheerenden Auswirkungen des Krieges im Nahen Osten für die arabische Bevölkerung in seinen Comics und Cartoons thematisiert, ist der aus dem Libanon stammenden Künstler Mazen Kerbaj, der mit seiner Familie seit bald zehn Jahren in Berlin lebt.
Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde der 1975 geborene Kerbaj 2006 durch das Comic-Tagebuch „Beirut Won’t Cry“, in dem er die Folgen des israelischen Bombardements auf seine damalige Heimatstadt in skizzenhaften, teils kubistisch stilisierten Text-Bild-Kombinationen festhielt. 2019 wurde Kerbaj mit einem Comicstipendium des Berliner Senats für eine biografische Arbeit über seinen Vater gefördert.
Die aktuellen Entwicklungen im Gazastreifen kommentiert Mazen Kerbaj seit dem vergangenen Herbst mit grafisch klug konstruierten Zeichnungen und kurzen Bildfolgen. Sie sind in der Regel auf wenige visuelle Elemente reduziert und vermitteln neben einer inhaltlichen Botschaft auch die wachsende Verzweiflung des Zeichners angesichts der zahlreichen zivilen Opfer der israelischen Angriffe. Er veröffentlicht sie auf seinem Instagram-Kanal, in libanesischen Zeitschriften und bei Ausstellungen in Italien oder Großbritannien.
Meine Kunst ist paradoxerweise für die Menschen, die getötet werden, genauso nutzlos, wie sie mir hilft, mit diesen Situationen umzugehen.
Der aus dem Libanon stammende und in Berlin lebende Künstler Mazen Kerbaj
Auf dem ersten Bild zum aktuellen Krieg, das Kerbaj am 11. Oktober 2023 veröffentlicht hat, sieht man ein palästinensisches Kind in den Trümmern eines Wohnhauses sitzen, dazu die Sprechblase: „Mama, ist es wahr, dass wir Terroristen sind?“ Auf anderen sind Leichensäcke, Totenköpfe oder tote Babys in stilisierter Form zu sehen, dazu Schlüsselbegriffe und Parolen des israelkritischen Diskurses wie „Genozid“ und „Free Palestine“.
Die verarbeitet Kerbaj mit sarkastischem Humor in Wortspielen, die sich gegen die aus seiner Sicht antipalästinensische Grundhaltung seitens großer Teile der westlichen Öffentlichkeit richten. Viele seiner Bilder sind von eindrücklicher visueller Kraft, so die Zeichnung eines stilisierten Auges, das von dem vielfach wiederholten Begriff „Witnessing“ (Zeuge sein) umgeben ist, darunter die Worte: „Wenn du die Gegenwart nicht ändern kannst, lass es die Zukunft wissen.“
Für Mazen Kerbaj sind seine Zeichnungen auch ein Weg, die für ihn zunehmend unerträglichen Nachrichten aus dem Gazastreifen zu verarbeiten, wie er dem Tagesspiegel erzählt. „Meine Kunst war bei tragischen Ereignissen, Kriegen und Massakern von Zivilisten immer eine sehr egoistische Lebensstütze“, sagt er. „Sie ist paradoxerweise für die Menschen, die getötet werden, genauso nutzlos, wie sie mir hilft, mit diesen Situationen umzugehen.“
Die aktuelle Lage in den palästinensischen Gebieten nehme ihn allerdings emotional mehr mit als viele andere Erfahrungen in den Jahren zuvor, sagt er. „Und mit jedem Tag, der vergeht und an dem der Wahnsinn immer noch andauert, fühle ich mich noch ein bisschen schlechter.“
Das Gute an den sozialen Medien, über die er seine Werke teilt, sei, dass er damit auch anderen Menschen helfen könne, mit dem Wahnsinn fertig zu werden, wie er aus Rückmeldungen erkennen kann. „Das gibt mir einen Grund, weiterzumachen, auch wenn ich sehr niedergeschlagen bin und mich zwischendurch nicht mehr an den Zeichentisch setzen kann, wie es gerade seit drei Wochen der Fall ist.“
Ein Thema, das Mazen Kerbaj immer wieder aufgreift, sind die Vorstöße der Politik, der Sicherheitsbehörden und des Kulturbetriebs in Deutschland und anderen westlichen Ländern, Antisemitismus zu unterbinden, aber israelkritische Meinungen und öffentlich gezeigtes Entsetzen über die Lage im Gazastreifen zuzulassen.
Die kontrovers diskutierten Versuche, dies mit Klauseln, Demonstrationsverboten und Verhaltensregeln zu erreichen, hat er unter anderem in einer Wort-Collage verarbeitet, in der er auf Englisch einen Text schreibt, der sich so übersetzen lässt: „Liebes Berlin, Du kannst und sollst alle Juden vor antisemitischen Taten schützen und zugleich den Menschen erlauben, ihre Trauer und Solidarität friedlich auszudrücken.“
Auf einem anderen aus Worten in dicker Blockschrift bestehenden Bild kritisiert er auf Englisch, es gebe derzeit „gerade noch genug freie Meinungsäußerung, um zu sagen, dass es keine freie Meinungsäußerung mehr gibt“.
Ein ähnlich starkes Gespür für visuelle Symbole wie Kerbaj hat die Zeichnerin Jana Traboulsi aus Beirut. Sie veröffentlicht ihre gezeichneten Kommentare zur aktuellen Lage unter anderem auf Instagram. Ihr Stil ist teilweise semirealistisch, so wenn sie Szenen der Zerstörung und des Todes im Gazastreifen oder feixende israelische Soldaten vor Rauchsäulen zeichnet.
Künstlerisch besonders prägnant sind allerdings ihre auf wenige Striche und Formen reduzierten Arbeiten, in denen sie mit einer nahezu abstrakten Bildsprache Botschaften vermittelt, die grafisch beeindruckend, aber in Bezug auf den 7. Oktober 2023 ein weiteres Beispiel für die derzeit weit verbreitete selektive Empathie sind.
So hat sie in einem drei Tage nach dem Terroranschlag der Hamas veröffentlichten Bild das karierte Muster des Kufiya-Tuches, das auch als Palästinensertuch bekannt ist, so verfremdet, dass aus dem roten Muster des Stoffes stilisierte Vögel werden, die in den Himmel aufsteigen.
Darunter steht auf einer Borte die Parole „Free Palestine“ – als künstlerische Reaktion auf das Massaker an hunderten israelischen Zivilisten und Ausländern auf israelischem Boden ein offensichtliches Zeichen, welcher Seite sie sich zurechnet und wessen Leid sie für keiner Erwähnung wert hält.
Weitere Künstlerinnen und Künstler mit arabischem Hintergrund, die persönlich-politische Blicke auf die aktuelle Situation vermitteln, sind der aus Beirut stammende und in Paris lebende Zeichner Joseph Kai, der seine Arbeiten unter anderem in der Zeitschrift „L’Orient Le Jour“ veröffentlicht, sowie die ebenfalls im Libanon geborene und in Brüssel lebende Zeichnerin Barrack Rima.
Mit ihrem Fokus auf das Leid der Bevölkerung des Gazastreifens bei weitgehender Ausblendung der Opfer des Anschlags vom 7. Oktober stehen die genannten Zeichnerinnen und Zeichner nicht allein. Auch in anderen Ländern, vor allem in Nordamerika, lassen sich in der Comicszene vor allem zahlreiche künstlerische Solidaritätserklärungen mit den Palästinenserinnen und Palästinensern finden.
Zudem äußern viele Zeichnerinnen und Zeichner scharfe Kritik an den aktuellen Positionen der Regierungen Israels, der USA und anderer westlicher Staaten, halten sich aber mit negativen Kommentaren gegenüber der Hamas und anderer in der aktuellen Situation relevanter arabischer Akteure auffallend zurück.
Der prominenteste Vertreter der US-Comicszene in diesem Kontext ist Joe Sacco. Der 1960 in Malta geborene und in Portland, Oregon, lebende Zeichner und ausgebildete Journalist gilt als Erfinder der modernen Comicreportage. Seit den 1990er Jahren hat er immer wieder längere Zeit in Israel und den Palästinensergebieten verbracht und dabei zahlreiche Comicreportagen erarbeitet, die vor allem das Leid der Palästinenser unter israelischer Besatzung eindrucksvoll und zeichnerisch meisterhaft thematisierten. Sie wurden auf Deutsch im Buch „Gaza“ und im Sammelband „Reportagen“ beim renommierten Schweizer Verlag Edition Moderne veröffentlicht.
Die aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten kommentiert Sacco jetzt in einer fortlaufenden Comicreportage mit dem Titel „The War on Gaza“, die sein US-Verlag Fantagraphics seit dem 26. Januar 2024 online veröffentlicht. Bislang sind vier Teile erschienen, in denen Sacco jeweils auf einer oder zwei Seiten aktuelle Vorgänge in semirealistischem Strich wiedergibt und dann mit einem sarkastischen Kommentar versieht.
Im ersten Teil drückt er zwar noch seine Erschütterung angesichts der Opfer des 7. Oktober aus, indem er sein gezeichnetes Alter Ego sagen lässt: „Das Ausmaß des Todes von israelischen Zivilisten hat mich entsetzt und machte jede Rechtfertigung, die ich für die militärische Komponente des Angriffs akzeptieren konnte, zunichte.“
Dann fragt er sich, ob die israelische Reaktion auf den Angriff Selbstverteidigung oder Genozid sei, um dann im letzten Bild einen neuen Begriff in die Debatte einzuführen: Es sei „genozidale Selbstverteidigung“. Das illustriert er mit Dutzenden schwarzen Granaten, deren Spitze jeweils einen in Tücher eingehüllten Menschenkörper durchbohrt.
In den folgenden Episoden rekapituliert Sacco, wie in früheren Jahren friedliche Proteste gegen das israelische Vorgehen in den Palästinensergebieten in von der israelischen Armee verübten Massakern endeten, was man als Rechtfertigung militanter Aktionen wie nicht zuletzt des Angriffs vom 7. Oktober interpretieren kann.
In einem weiteren Beitrag kommentiert er mit bitterem Witz, wie US-Präsident Joe Biden das weitgehend als unzutreffend eingeschätzte Narrativ von beim Überfall am 7. Oktober geköpften Babys propagandistisch nutzte und sinniert darüber, wie die Folgen der aktuellen Angriffe der israelischen Armee die Palästinenser noch über Generationen traumatisieren dürften.
Saccos Beiträge wurden mit dem Start der Reihe zu Jahresbeginn eingeleitet durch eine Erklärung seines Verlages Fantagraphics zur aktuellen Lage in Israel und dem Gazastreifen. Das 1976 gegründete Unternehmen zählt zu den wichtigsten unabhängigen Verlagen der nordamerikanischen Comicszene und hat sich neben der Herausgabe von Klassiker-Gesamtausgaben wie von den „Peanuts“ vor allem durch anspruchsvolle Erwachsenen-Comics einen Namen gemacht hat.
Dieser barbarische Akt rechtfertigt nicht, dass Israel sein eigenes Kriegsverbrechen begeht und im Gegenzug exponentiell größeres Leid und Trauma zufügt.
Die Chefs des US-Comicverlages Fantagraphics in einer Erklärung zum 7. Oktober 2023 und seinen Folgen
„Wir möchten klar und deutlich zum Ausdruck bringen, dass wir an der Seite der unschuldigen Menschen in Gaza stehen“, heißt es in der Erklärung der beiden Fantagraphics-Verlagschefs Gary Groth und Eric Reynolds. „Gleichzeitig verurteilen wir nachdrücklich das Massaker an unschuldigen israelischen Zivilisten durch die Hamas am 7. Oktober als Kriegsverbrechen und erkennen mit tiefem Bedauern die Trauer und das Trauma an, das das jüdische Volk in der Folgezeit erleidet; aber dieser barbarische Akt rechtfertigt nicht, dass Israel sein eigenes Kriegsverbrechen begeht und im Gegenzug exponentiell größeres Leid und Trauma zufügt.“
Dann fordern sie unter anderem einen sofortigen Waffenstillstand, mehr humanitäre Hilfe für Gaza und das Ende des israelischen „Apartheid-Regimes“ sowie die Freilassung der Geiseln der Hamas und im Gegenzug die Freilassung aller palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen.
Kritische Kommentare vor allem zum israelischen Vorgehen der vergangenen Monate finden sich in der nordamerikanischen Comicszene auch in den Arbeiten der Zeichnerin Ellen O’Grady, die vor einigen Jahren länger im Gazastreifen und im Westjordanland gelebt und ihre damaligen Erfahrung im Bilderbuch „Outside the Ark: An Artists Journey in Occupied Palestine“ verarbeitet hat.
Auf Instagram vermittelt sie jetzt in kurzen, skizzenhaften Bilderfolgen ihre Erschütterung angesichts der aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten und ergreift dabei nicht nur Partei für die Palästinenser, sondern auch für die Hamas, die für sie keine Terrorgruppe, sondern eine „bewaffnete Widerstandsgruppe gegen eine Kolonialmacht“ ist, wie es in einem aktuellen Beitrag heißt.
Einige dieser Arbeiten kann man auch auf der kürzlich gestarteten Online-Plattform „Cartoonists for Palestine“ finden. Dort präsentieren seit einigen Monaten rund 20 Zeichnerinnen und Zeichner aktuelle Beiträge, die sich kritisch mit dem israelischen Vorgehen in Gaza beschäftigen, das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung in Bilder fassen und einen Waffenstillstand fordern.
Das hat jetzt auch der Weltsicherheitsrat gefordert – der diesen Appell allerdings im Gegensatz zu vielen pro-palästinensischen Aktivistinnen und Aktivisten mit der Forderung an die militant-islamistische Terrormiliz Hamas verbunden hat, alle ihre Geiseln umgehend und bedingungslos freizulassen. Unter den Beteiligten bei „Cartoonists for Palestine“ sind neben einigen der hier zuvor genannten Zeichnerinnen und Zeichnern mit Peter Kuper und Matt Bors auch zwei Veteranen der linken Polit-Comicszene der USA.
Die renommierte US-Zeichnerin Lynda Barry veröffentlicht auf ihrer Instagram-Seite regelmäßig neue Aquarellbilder mit „Waffenstillstands-Ballons“, mit denen sie ihre Erschütterung angesichts der vielen von der israelischen Armee getöteten Kinder im Gazastreifen ausdrückt und mit deren Versteigerung sie Spendengelder für eine Hilfsorganisation sammelt, die Kindern im Kriegsgebiet hilft.
Weitere israel-kritische Arbeiten finden sich regelmäßig auf den Seiten des vor allem in der internationalen Avantgarde-Szene geschätzten kanadischen Zeichners Michael Deforge, der unter anderem mehrere pro-palästinensische Protestplakate und eine in einer linksalternativen kanadischen Zeitschrift veröffentlichte Infografik zur angeblichen Einseitigkeit der kanadischen Medien gezeichnet hat.
Aktuell preist er auf seinem Instagram-Kanal auch ein von ihm gestaltetes T-Shirt an, das mehrere visuelle Symbole des palästinensischen Kampfes gegen Israel in Deforges fragilem, organisch wirkenden Strich vereint. Das Shirt, dessen Verkaufserlöse palästinensischen Familien zugutekommen sollten, trägt zudem eine Parole, die sich auch in vielen anderen aktuellen Werken von Zeichnerinnen und Zeichnern wiederfindet, die sich gegen Israel engagieren: „From the River to the Sea“.
Diese Parole, die im Original noch durch den Zusatz „Palestine will be free“ ergänzt wird und in Deutschland von einigen Innenbehörden unter bestimmten Umständen auf Demonstrationen verboten wurde, bezieht sich auf das Staatsgebiet Israels sowie das Westjordanland und den Gazastreifen.
Sie wird sowohl von pro-palästinensischen Gruppen auf Demonstrationen genutzt als auch von der Hamas und anderen militanten Gruppen. Während manche den Spruch als Forderung nach mehr Bewegungsfreiheit und Rechten für Palästinenser interpretieren, sehen andere darin den Aufruf zur Vernichtung des israelischen Staates.
Eine nahezu entgegengesetzte Perspektive findet sich derzeit primär bei israelischen Comiczeichnerinnen und -zeichnern. Schaut man sich deren online veröffentlichte Arbeiten an, fällt vor allem ins Auge, dass sich viele nach wie vor mit den Folgen des Terrorangriffs vom 7. Oktober aus israelischer Perspektive beschäftigen, vor allem dem ungewissen Schicksal der an jenem Tag von der Hamas entführten Geiseln und dem damit verbundenen, bis heute anhaltenden Leid der betroffenen Familien.
Der Krieg hat meine Kunst in vielerlei Hinsicht verändert.
Der israelische Cartoonist und Maler Zeev Engelmayer
Die inzwischen Zehntausenden Toten im Gazastreifen durch den israelischen Militäreinsatz, die katastrophale humanitäre Lage und die eskalierende Hungersnot sind hier in den meisten Fällen kaum ein Thema – auch nicht bei Zeichnerinnen, die der Netanjahu-Regierung eigentlich kritisch gegenüberstehen, was auf einen Großteil der israelischen Comicszene zutrifft.
Der Cartoonist und Maler Zeev Engelmayer zum Beispiel war lange Zeit eine der bekannteren Stimmen des Protests gegen Netanjahu und die Innenpolitik der ultrarechten Regierung, die er in seinen Bildern und auch in Form von Performance-Kunst mit seinem verkleideten Alter Ego Shoshke Engelmayer kritisierte.
„Der Krieg hat meine Kunst in vielerlei Hinsicht verändert“, erklärt der 61-Jährige dem Tagesspiegel in einer E-Mail. Seine Themen, seine Stilmittel, seine Arbeitsweise und vor allem sein Austausch mit den Menschen, die seine Kunst betrachten – nichts sei wie vor dem 7. Oktober.
Seit dem Überfall der Hamas hat sich Engelmayer einem Thema verschrieben: dem Schicksal der Opfer des 7. Oktober. Eines seiner ersten Bilder nach dem Anschlag war eine von Picassos „Guernica“ inspirierte Zeichnung, die tote und weinende Menschen zeigt und den Titel „Nova Music Festival“ trägt. Bei jenem Festival wurden am Morgen des 7. Oktober mehr als 360 Menschen getötet und 40 von der Hamas entführt.
Seit dem Terroranschlag zeichnet Engelmayer fast jeden Tag ein von ihm als „Postkarte“ bezeichnetes Bild, fast immer sind darauf die Toten vom 7. Oktober sowie die von der Hamas entführten Geiseln und ihre Angehörigen zu sehen, die er in einem Stil porträtiert, der mal naiv und mal surrealistisch wirkt und gelegentlich einen schwarzen Humor aufweist. Palästinenser sieht man in den meisten dieser Bilder nur als maskierte Geiselnehmer oder um sich schießende Hamas-Killer.
Diese Bilder erreichen in Israel über Instagram und Facebook und klassische Medien viele Menschen. Engelmayers Bilder sind zudem in Ausstellungen, als Ausdrucke auf Häuserwänden und als Hintergrundbilder in Fernsehsendungen zu sehen. Immer wieder wenden sich auch Angehörige von Geiseln an ihn und bitten ihn, ein Bild ihrer vermissten oder getöteten Familienmitglieder zu zeichnen, wie er dem Tagesspiegel erzählt.
Die israelischen Geiseln, von denen sich nach wie vor etwa 100 in den Händen der Hamas und anderer palästinensischer Terrorgruppen befinden, sind auch ein wiederkehrendes Thema von Michel Kichka.
Der israelische Comiczeichner und Cartoonist hat vor einigen Jahren die Geschichte seines Vaters, eines Holocaust-Überlebenden, in der viel gelobten Graphic Novel „Zweite Generation. Was ich meinem Vater nie erzählt habe“ verarbeitet und zwei weitere autobiografische Comicerzählungen veröffentlicht. Zudem ist er als politischer Karikaturist vor allem im französischsprachigen Ausland renommiert und unterrichtet visuelle Kommunikation an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem.
„Nach dem 7. Oktober standen viele Zeichner, Karikaturisten, Illustratoren und Comiczeichner unter einem solchen Schock, auch ich, dass es einige Zeit dauerte, bis sie wieder reagieren, zeichnen und zum normalen Leben zurückkehren konnten“, erklärt der 69-Jährige im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
„Einige waren für mehr als zwei oder drei Wochen wie gelähmt“, berichtet Kichka. „Nicht nur wegen des nationalen Traumas, sondern auch, weil Israel ein so kleines Land ist, dass es unmöglich ist, nicht direkt und persönlich vom Tod, der Geiselnahme oder der Kriegsverletzung eines Bekannten, eines Freundes, eines Familienmitglieds, eines Kollegen, des Sohnes oder der Tochter oder des Vaters von jemandem, den man kennt, betroffen zu sein.“ Er und viele Menschen aus seinem Umfeld hätten nach dem 7. Oktober viel Zeit bei Beerdigungen und Trauerwochen im ganzen Land verbracht.
Da der Krieg andauert und die erklärten Ziele von Benjamin Netanjahu und seiner rechtsextremen Regierung nicht erreicht wurden, habe ich jetzt damit begonnen, gegen seine Politik zu zeichnen.
Der israelische Karikaturist und Comiczeichner Michel Kichka
In seinen Arbeiten aus der Zeit nach dem Terroranschlag, von denen einige auf seiner Website zu finden sind, hat sich Kichka in den ersten Monaten daher besonders viel mit dem Schicksal der Geiseln und ihrer Familien beschäftigt. Zudem hat er die enge Verstrickung des UN-Flüchtlingshilfswerks mit der Hamas und die Anklage Israels vor dem Internationalen Gerichtshofs wegen des Vorwurfs des Völkermords mit seinen Zeichnungen kritisch kommentiert.
„Alle meine Kollegen und ich zeichneten in erster Linie aus Solidarität mit den Opfern und ihren Familien und mit unseren Soldaten“, fasst Kichka die ersten Monate nach dem 7. Oktober zusammen. „Dies ist eine natürliche Reaktion der Solidarität in unserer Gesellschaft.“
In den ersten drei Monaten habe er jeden Tag mindestens einen Cartoon gezeichnet, ihn online veröffentlicht und gratis auf Websites wie „Cartooning for Peace“ sowie bei französischen und belgischen Zeitungen veröffentlicht, auf TikTok, Instagram und X wurden seine Arbeiten teils hunderttausendfach geteilt. „Ich habe festgestellt, dass meine Karikaturen anderen Menschen in Zeiten des Aufruhrs und tiefen Traumas Trost und Mitgefühl spenden.“
Inzwischen hätten sich seine Themen und seine Perspektive geändert: „Da der Krieg andauert und die erklärten Ziele von Benjamin Netanjahu und seiner rechtsextremen Regierung nicht erreicht wurden, habe ich jetzt damit begonnen, gegen seine Politik zu zeichnen“, sagt Kichka. „Keine leichte Sache in Israel in Kriegszeiten.“
Zusammen mit neun anderen israelischen Comiczeichnern arbeitet Kichka zudem an einem Comic-Band für Delcourt, einen der größten französischen Comicverlage: „Zehn israelische Comiczeichner wurden gebeten, eine zehnseitige Geschichte über einen Akt des zivilen Heroismus am 7. Oktober zu zeichnen“, erzählt er.
Der Zeichner arbeitet derzeit an der Geschichte eines beduinischen Lieferwagenfahrers, der 30 jungen Menschen das Leben rettete, die auf dem Musikfestival in der Nähe des Gazastreifens waren, das am 7. Oktober von der Hamas überfallen wurde. 364 Menschen wurden dabei ermordet, 40 als Geiseln in den Gazastreifen entführt. Außerdem recherchiert Kichka gerade in Ruanda für einen Comic über den Völkermord an den Tutsi im Jahr 1994, zu dem er einen Beitrag für einen Sammelband erarbeitet.
Eine weitere prominente israelische Zeichnerin, die in aktuellen Arbeiten vor allem das Schicksal der Geiseln thematisiert, ist Ilana Zeffren. Auf Facebook und Instagram veröffentlicht sie regelmäßig Porträts der Entführten und immer wieder grafisch reduzierte Symbolbilder zu deren Lage.
So wie am Montag vergangener Woche: Da hat sie die Zahl 170 – seit so vielen Tagen sind die Geiseln in der Gewalt ihrer Entführer – in dicken, dunklen Bleistiftstrichen so gezeichnet, dass die Null wie ein schwarzes Loch aussieht, in dem eine gebeugte Figur wie in einer Höhle kauert. Eine Anspielung, die in Israel jeder versteht.
Regelmäßige gezeichnete Kommentare zur Lage im Gazastreifen und zur israelischen Innenpolitik veröffentlicht der Comiczeichner und Karikaturist Uri Fink, der auch der Vorsitzende des israelischen Karikaturistenverbandes ist und sich in der internationalen Gruppe „Cartooning for Peace“ engagiert, in der auch viele Zeichner aus arabischen Ländern aktiv sind.
Für ihn wie für viele seiner Kollegen ist die aktuelle Lage eine tägliche Gratwanderung zwischen der Rolle als politischer Beobachter und der persönlichen Betroffenheit. Einerseits verspottet und kritisiert Uri Fink in seinen Zeichnungen weiterhin die von ihm und vielen Berufskollegen vehement abgelehnte israelische Regierung. Andererseits teilt er auch gegen die Hamas und einseitige Unterstützer der Palästinenser in Ländern wie den USA aus.
„Das Zeichnen von Karikaturen in Kriegszeiten ist wie eine Szene in ,Mission Impossible’“, sagte Uri Fink kürzlich der Zeitung „Haaretz“. „Alle sind nervös.“ Fink hat sich in der aktuellen Konfliktlage entschieden, in seinen Arbeiten abwechselnd unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Er wolle „an einem Tag Kritik an den Geschehnissen im Land üben, Bibi angreifen oder was auch immer, und am nächsten Tag eine Karikatur zeichnen, die im Außenministerium verwendet werden kann.“
Manche Comiczeichner in Israel suchen noch nach Wegen für sich, die Ereignisse der vergangenen Monate zu verarbeiten. „Es ist für uns eine Frage des Überlebens, wenn die neue Realität ist, dass der Feind in dein Haus kommen und dich abschlachten kann“, erklärt der israelische Zeichner Gilad Seliktar im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
Der 47-Jährige hat sich mit mehreren biografischen Arbeiten international einen Namen gemacht, zuletzt durch einen Beitrag für die in Nordamerika und Deutschland veröffentlichte und viel gelobte Anthologie „Aber ich lebe“, in der die Biografien von vier Holocaust-Überlebenden durch etablierte Comicschaffende nachgezeichnet werden.
Das Trauma ist immer noch präsent, es ist eine blutende Wunde, vor allem bei den Leuten, die an der Front waren.
Der israelische Comiczeichner Gilad Seliktar
Seliktar berichtet, dass er nach dem 7. Oktober versucht habe, sein Gefühl der Erschütterung und der Unsicherheit seit jenem Tag in einer autobiografischen Comicerzählung zu verarbeiten, aber er hat sie bislang nicht beendet. Dafür arbeitet er derzeit, wie Michel Kichka, an einem Beitrag für die französische Anthologie mit Geschichten von Überlebenden des 7. Oktober. „Es ist sehr schwierig, so kurz nach dem Ereignis damit umzugehen“, sagt Seliktar. „Das Trauma ist immer noch präsent, es ist eine blutende Wunde, vor allem bei den Leuten, die an der Front waren.“
Für ihn als Israeli und als Künstler sei es zudem sehr schmerzhaft, die internationalen Reaktionen auf die Lage im Nahen Osten zu sehen, insbesondere seitens vieler israelkritischer Künstlerinnen und Künstler, deren Perspektive er oft als einseitig oder unvollständig empfinde. „Das Bild ist breiter und viel komplexer“, sagt Seliktar, „und es ist sehr enttäuschend zu sehen, dass es Zeichner gibt, die ich schätze, die aber nur einen kleinen Teil des Bildes sehen und sich mit leeren Slogans ausdrücken wollen.“
„Der 7. Oktober war einer der größten Schocks in meinem Leben und ist es immer noch“, erklärt Rutu Modan im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Die international bekannte Comiczeichnerin hat sich in mehreren Graphic Novels wie „Blutspuren“, „Das Erbe“ und zuletzt der politischen Satire „Tunnel“ sehr sensibel, aber auch mit Humor mit der Lage im Nahen Osten beschäftigt.
Der Anschlag im vergangenen Herbst „hat meine Welt emotional erschüttert, aber auch meine Ideen und Überzeugungen“, berichtet die 58-Jährige. In den ersten sechs Wochen nach dem Terroranschlag fühlte sie sich wie gelähmt. Das Einzige, was sie in der Zeit gezeichnet habe, seien Porträts von Geiseln gewesen, um die sie von deren Familienangehörigen gebeten wurde, die in mehreren Fällen Freunde von ihr waren.
Daneben hat sie auf ihrer Instagram-Seite zwei Karikaturen veröffentlicht, die kontrovers aufgenommen wurden. Die eine erschien dort Ende November 2023 und zeigt einen Hamas-Kämpfer, der inmitten der Ruinen von Gaza einen Hund ausführt. Um ihn herum liegen Tote und Gebäudetrümmer, aber seine ganze Aufmerksamkeit gehört dem Hund, der gerade einen Haufen gemacht hat. In einer Sprechblase der Figur ist zu lesen: „Dafür habe ich mich nicht gemeldet!“
Bei Modans Publikum provozierte das sehr unterschiedliche Reaktionen: Einige ihrer israelischen Follower lobten ihren Sinn für schwarzen Humor und zeigten sich begeistert. Mehrere Follower außerhalb Israels äußerten sich dagegen empört und warfen ihr vor, das Leid der Palästinenser und die tausenden Toten zu verniedlichen.
Empörte Reaktionen auf Münchhausen
Einen zweiten Cartoon veröffentlichte Modan am 31. Dezember 2023, er zeigt den Lügenbaron von Münchhausen, der sich auf einem Pferd sitzend am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, dazu der Satz: „Wir finden einen Weg – frohes neues Jahr 2024.“ Auch hier waren die Reaktionen wieder gespalten: Während die einen ihren Humor lobten, warfen andere der Zeichnerin vor, kein Mitgefühl mit den Opfern des Gazakrieges zu haben.
Ihre Empfindungen nach den Anschlägen, so berichtet Rutu Modan dem Tagesspiegel, waren anfangs vor allem von zwei Empfindungen geprägt: Opferrolle und Schuld – „die beiden menschlichen Reaktionen, die ich am meisten hasse“. Aus diesem Ansatz könne keine gute Kunst entstehen, findet sie. Also beschloss sie, mit weiteren, tiefergehenden Beiträgen zur aktuelle Lage zu warten und ihre widerstreitenden Gedanken und Gefühle in einem Tagebuch zu notieren.
Inzwischen überlegt sie, das als Grundlage einer Comicerzählung zu nehmen. „Ich nenne dieses Vielleicht-Buch ‚Wie ich zum Kriegsverbrecher wurde‘“, sagt sie. „Es soll erforschen, wie eine Person wie ich, die in jeder Hinsicht ein Befürworter des Friedens ist, an diesen Punkt gekommen ist, an dem sie zumindest moralisch verantwortlich ist für das, was jetzt in Gaza und auch in Israel passiert.“
Noch sei sie sich aber nicht sicher, ob es dazu komme. „Vielleicht ist es zu kompliziert und hat nichts mit der Welt zu tun, in der wir jetzt leben und die nur nach einfachen Schwarz-Weiß-Sichtweisen zu suchen scheint.“
Mehrere ehemalige Studentinnen von Rutu Modan, die als Professorin visuelle Kommunikation an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem unterrichtet, haben sich kürzlich in Form kurzer Comic-Episoden mit der aktuellen Lage beschäftigt, die die Ereignisse am 7. Oktober thematisieren.
Koordiniert von einer Illustrationsagentur soll daraus ein Buch entstehen, dessen Erlöse für wohltätige Zwecke zugunsten der Opfer des Anschlags verwendet werden sollen, wie die Zeichnerin Fabiola Varges dem Tagesspiegel berichtet, die eine der Beteiligten ist.
„Für das Projekt wurden ich und andere Zeichner mit Überlebenden des 7. Oktober zusammengebracht“, erzählt Fabiola Varges, aus deren Arbeit wir hier eine Seite zeigen. „Es war eine heikle Aufgabe, die Details eines so schrecklichen Ereignisses, das noch nicht lange zurückliegt, zu veranschaulichen.“
„In den Tagen nach dem Massaker suchten die Menschen nach jeder Möglichkeit zu helfen“, berichtet die Zeichnerin Aya Talshir, die ebenfalls an dem Projekt beteiligt ist. „Einige standen Schlange, um Blut, Lebensmittel oder Uniformen zu spenden – und ich beteiligte mich an jeder Illustrations- und Cartoon-Initiative, die sich mir bot.“
Sie hat für den geplanten Sammelband die Geschichte einer jungen Frau als Comic umgesetzt, die den Überfall auf das Nova-Festival knapp überlebt hat. „Diese Geschichte von Freundinnen um die 20, die einfach nur tanzen gehen wollten, hätte auch meine sein können“, sagt Aya Talshir.
„Wir waren und sind immer noch erschüttert von der internationalen Reaktion auf unseren schlimmsten Tag im Leben – und wir wollen jede Möglichkeit nutzen, um die Wahrheit zu verbreiten“, erklärt der Illustrator Noam Weksler die Intention des Projekts. Er ist ebenfalls ehemaliger Student der Bezalel Academy of Arts and Design und hat die geplante Anthologie zusammen mit einem Freund initiiert.
16 israelische Zeichnerinnen und Zeichner sind daran nach seinen Angaben beteiligt, die versammelten Geschichten erzählen teils von Überlebenden des Anschlags und teils von Menschen, die am 7. Oktober ums Leben kamen.
„Als Künstler und Comic-Liebhaber wissen wir, wie viel Macht dieses Medium hat“, schreibt Weksler in einer E-Mail. „Wir glauben, dass niemand diese Geschichten lesen kann, ohne etwas zu fühlen: Unsere Comics geben einen Einblick in diesen schrecklichen Tag, eine einfühlsame Erzählung der menschlichen Geschichte – der Tragödie, des Mutes und der Liebe.“
Andere Künstlerinnen und Künstler, die sich in der Vergangenheit viel mit Israel, den Palästinensergebieten und der Situation im Nahen Osten beschäftigt haben, halten sich bislang mit öffentlichen Beiträgen zurück. Miriam Libicki zum Beispiel.
Die Zeichnerin lebt in Kanada, besitzt die israelische und US-amerikanische Staatsbürgerschaft und hat in ihren Büchern unter anderem ihre Erfahrungen als Amerikanerin in der israelischen Armee („jobnik! an american girl’s adventures in the israeli army“) und Fragen der jüdischen Identität („Toward a Hot Jew“) mit viel Witz und einem kritisch-sympathischen Blick auf Israel behandelt.
Zudem war sie wie auch ihr israelischer Kollege Gilad Seliktar als Zeichnerin an dem Gemeinschaftsprojekt „Aber ich lebe“ beteiligt, für das sie die Biografie des Holocaust-Überlebenden David Schaffer aufgearbeitet hat.
Ich habe nicht das Gefühl, dass ich Antworten habe, die ich anderen Leuten ins Gesicht drücken muss.
Die in Kanada lebende israelisch-amerikanische Comiczeichnerin Miriam Libicki
Nach dem 7. Oktober hat Miriam Libicki für ein geplantes Comicprojekt Interviews mit drei israelischen Freunden und Familienmitgliedern geführt, berichtet sie. Eine deutsche Zeitung wollte einen Comic dazu bei ihr in Auftrag geben, aber das Vorhaben kam dann doch nicht zustande. Ihre Gedanken zur aktuellen Lage teilt sie daher bislang primär mit Freunden oder ihrem Tagebuch.
„Ich habe nicht das Gefühl, dass ich Antworten habe, die ich anderen Leuten ins Gesicht drücken muss“, sagt sie. „Weder wirksame Antworten auf den Krieg noch einfache und überzeugende Antworten auf die schädliche Polarisierung und Stereotypisierung“, die sie in der Kunstszene und der akademischen Welt beobachtet und selbst erlebt habe. „Ich habe das Gefühl, dass ich auf Stimmen aus Israel und Palästina hören muss, auch wenn es schmerzhaft ist“, sagt Libicki.
Ein bemerkenswertes Projekt des Zuhörens, das möglichst viele unterschiedliche Facetten des Themas in Comicform zu vermitteln versucht, läuft seit Anfang dieses Jahres in Deutschland. Unter der Frage „Wie geht es Dir? – Zeichner*innen gegen Antisemitismus, Hass und Rassismus“ laden renommierte Comicschaffende aus der deutschsprachigen Szene dazu ein, sich über die Auswirkungen des Hamas-Angriffs auf Israel und des Krieges im Gazastreifen auszutauschen.
Ein bis zwei Mal pro Woche werden auf der Website wiegehtesdir-comics.de und über soziale Medien wie Instagram derzeit neue, ehrenamtlich erarbeitete Folgen veröffentlicht, in denen die Comicschaffenden von Gesprächen und Begegnungen mit Menschen erzählen, die auf unterschiedliche Weise von den Folgen der Gewalt im Nahen Osten betroffen sind.
Initiiert wurde das Projekt, das wir zum Start im Tagesspiegel hier ausführlicher vorgestellt haben, von sechs Zeichnerinnen und Zeichnern, die in der deutschen Szene seit Jahren etabliert sind: Hannah Brinkmann, Nathalie Frank, Michael Jordan, Moritz Stetter, Birgit Weyhe und Barbara Yelin. Zahlreiche weitere Künstler*innen haben inzwischen gezeichnete Arbeiten beigesteuert.
Fachlich begleitet und unterstützt wird die Initiative durch die Wissenschaftlerin Dr. Véronique Sina von der Goethe-Universität Frankfurt und das Team des Internationalen Comic-Salons Erlangen, des wichtigsten deutschsprachigen Szene-Festivals.
Vielfalt der Perspektiven
Die Bandbreite der bisher publizierten Beiträge ist beeindruckend, auch weil man ihr anmerkt, wie sehr die Zeichnerinnen und Zeichner sich um eine Vielfalt der Perspektiven bemühen und nuanciert unterschiedliche Positionen herausarbeiten. So finden sich hier Gespräche mit Menschen jüdischen und muslimischen Hintergrunds, die sich in Deutschland in Initiativen engagieren, die zum gegenseitigen Verständnis beitragen wollen.
In einem Beitrag fasst der Zeichner Reinhard Kleist seinen Austausch mit einem Freund in Tel Aviv zusammen, der sich dort für einen Waffenstillstand und gegen Netanjahu engagiert. In einem anderen vermittelt die Autorin und Zeichnerin Nathalie Frank, wie es einer jungen Deutsch-Palästinenserin geht, die im Gazastreifen viele Angehörige verloren hat, sich in ihrem Geburtsland Deutschland unter Generalverdacht gestellt sieht. „Hier gelte ich als Ausländerin, für die Familie in Gaza bin ich die Deutsche Cousine“, fasst sie ihre Lage zwischen den Welten zusammen.
Die Beiträge regen zum Nachdenken und Hinterfragen eindeutiger Zuschreibungen an und zeigen nebenbei eine beachtliche stilistische Vielfalt auf hohem zeichnerischen Niveau.
Die durch den Terroranschlag vom 7. Oktober und den darauffolgenden Gazakrieg ausgelöste Polarisierung der Kulturszene beschäftigt den Internationalen Comic-Salon inzwischen auch auf andere Weise. Eine prominente Zeichnerin aus dem Ausland, deren Arbeiten als Teil einer Ausstellung ab Ende Mai beim diesjährigen Festival in Erlangen zu sehen sein sollten, hat kürzlich wegen der aktuellen Lage im Nahen Osten ihre Teilnahme an der Schau zurückgezogen.
„Strike Germany“ trifft den Comic-Salon Erlangen
Sie begründet das damit, dass sie mit der Politik der deutschen Bundesregierung in Bezug auf die Situation im Gazastreifen und mit dem Umgang mit palästinensischen Stimmen in Deutschland nicht einverstanden sei, wie Festivalchef Bodo Birk dem Tagesspiegel bestätigt. Er ist der stellvertretende Leiter des Kulturamtes Erlangen, das alle zwei Jahre den Comic-Salon veranstaltet.
Diese Sichtweise wird derzeit von zahlreichen internationalen Künstlerinnen und Künstlern vertreten, die die Kampagne „Strike Germany“ unterstützen. Die wurde Anfang 2024 von israelkritischen Aktivisten im Internet gestartet und ruft internationale Kulturschaffende zu einem Boykott öffentlich geförderter deutscher Kulturinstitutionen auf, da ihrer Meinung nach in Deutschland die freie Meinungsäußerung in Bezug auf den Nahen Osten und vor allem die Solidarität mit Palästina eingeschränkt sei.
„Sicherlich ist es richtig, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte ein besonders enges Verhältnis zum Staat Israel pflegt“, sagt Bodo Birk dazu. „Andererseits gibt es natürlich auch in den deutschen Medien und in der deutschen Politik sehr kritische Stimmen hinsichtlich des Angriffs Israels auf den Gazastreifen und der israelischen Politik im Westjordanland.“
Er ist vor allem unglücklich darüber, dass die gesamte deutsche Kulturszene bei „Strike Germany“ über einen Kamm geschert wird, wie er sagt. Es gebe sehr viele Beispiele dafür, „wie deutsche Kulturinstitutionen einen freien Austausch über Israel und Palästina und unsere Reaktion auf die schrecklichen Entwicklungen suchen und unterstützen“.
Im Gegensatz zu den Vorwürfen von „Strike Germany“ werde Kulturschaffenden in Deutschland sogar vorgeworfen, zu israelkritisch zu sein, bis hin zu dem Vorwurf, in der deutschen Kulturszene gäbe es ein Problem mit antisemitischen Tendenzen. „Wir sitzen also zwischen allen Stühlen.“
Das Organisationsteam des Comic-Salons sei „wie viele andere Kulturschaffende in Deutschland fest davon überzeugt, dass nur das offene Gespräch, der freie Dialog dazu beitragen kann, die tiefen Gräben zu überwinden“. Boykotte und Sprachlosigkeit verschärften die Konflikte nur. In diesem Sinne hat der Festivalleiter die Künstlerin gebeten, ihre Entscheidung zum Boykott der Ausstellung des Comic-Salons noch einmal zu überdenken. Eine Antwort steht bislang noch aus.