„Die Farbe Lila“ im Kino: Weibliche Solidarität, gesungen und getanzt

Die Schriftstellerin Alice Walker hätte sich vermutlich nicht träumen lassen, dass ihr mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Roman über ein schwarzes, von seinem Stiefvater sexuell missbrauchtes Mädchen in den amerikanischen Südstaaten, das gegen alle Chancen, die ihr die Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts bietet, ihre eigene Befreiungsgeschichte erzählt, Jahrzehnte später in Musical-Form reüssieren würde. Die menschlichen Abgründe, die sich in „Die Farbe Lila“ auftun, laden weder zum Tanzen noch zum Singen ein.

Schon die erste Verfilmung von Steven Spielberg (1985), die der damals 30-jährigen Whoopi Goldberg zum Durchbruch verhalf, litt stellenweise darunter, dass die schmerzvolle Kindheit der jungen Celie ein wenig zu gefällig für die Sensibilitäten eines weißen Publikums in Szene gesetzt worden war.

Spielbergs Film war 1985 noch ein Solitär

Spielbergs Film avancierte dann trotzdem für viele Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner zu einem kulturellen Meilenstein, was auch daran lag, dass „Die Farbe Lila“ im farbenblinden Hollywood der 1980er lange ein Solitär blieb. Allein schon wegen Goldberg und ihrer Partnerin Oprah Winfrey musste man Spielberg wohl die dramaturgischen Schwächen verzeihen.  

Der ghanaische Rapper und Regisseur Blitz Bazawule kann sich mit seiner Musical-Adaption auf mehrere Quellen berufen: neben Spielbergs Film auch auf zwei Broadway-Shows aus den Jahren 2005 und 2015.

Dass selbst am Broadway innerhalb von nur zehn Jahren eine Art Reboot des Erfolgsmusicals entstand, dessen Emanzipationsgeschichte deutlich reduzierter und weniger salbungsvoll erzählt war, bezeugt, wie entschieden in jüngerer Zeit die amerikanische Unterhaltungsindustrie die Perspektiven von schwarze Geschichten immer wieder hinterfragt. Zwei Mal zitiert Bazawule in „Die Farbe Lila“ Spielberg: Er gibt Whoopi Goldberg einen Cameo-Auftritt als Hebamme, während Taraji P. Henson den damals oscarnominierten Song „Miss Celie’s Blues“ singt.

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Bei Spielberg fungierte „Miss Celie’s Blues“ noch als Chiffre für die romantischen Gefühle zwischen der schüchternen Celie (Fantasia Barrino) und der extrovertierten Pastorentochter Shug Avery (Taraji P. Henson), die als glamouröse Sängerin an ihren Geburtsort an der Küste Georgias zurückkehrt. Walkers Motiv der lesbischen Liebe war in Spielbergs libidinös bereinigter Version lediglich eine verschämte Andeutung. Bei Bazawule bekommen die Gefühle von Celie und dem „leichten Mädchen“ Shug, das den Männern gleichermaßen den Kopf verdreht, sogar zwei exaltierte Auftritte, die gleichzeitig zu den intimeren Momenten von „Die Farbe Lila“ gehören.

In der ersten der beiden Musical-Nummern rotiert die in der Badewanne liegende Shug auf einem überdimensionalen Grammophon, während Celie noch verschüchtert den Schaum vom Arm ihrer Angebeteten streicht. In der zweiten Einlage öffnet sich eine Busby-Berkeley-mäßig Showbühne, als Celie und Shug im Kino sitzen; gemeinsam schreiten sie die Treppe herab und singen „What About Love?“. Die Szene endet mit einem Kuss, am nächsten Morgen wachen sie dann eng umschlungen im Bett auf.

Choreografien von Arbeit, Liebe und Befreiung

Bazawule, der schon bei Beyoncés Visual Album „Black Is King“ Regie geführt hat, besitzt ein fantastisches musikalisches Timing und ein schönes Gespür für die Verhältnismäßigkeit der Mittel im Spektakel. Er überführt die naturgemäß begrenzte Bühnen-Inszenierung in ausgefeilte Choreografien von Arbeit, Liebe und Befreiung; aber auch in kraftvolle innere Monologe, insbesondere den emphatischen Selbstbehauptungsklassiker „I Am Here“, in dem Fantasia Barrino, die die Rolle Celies schon am Broadway gespielt hat, über sich hinaus wächst.

Man mag darüber streiten, ob im Jahr 2023 eine Musical-Einlage mit schwarzen Kettensträflingen nicht reichlich geschmacklos ist. Aber Walkers Verständnis von Feminismus kommt die Musical-Version von „Die Farbe Lila“ deutlich näher als Spielbergs zerknittertes Drama.

Immer, wenn sich die Welt in eine Bühne verwandelt, werden Barrino, Henson und die umwerfende (auch umwerfend komische) Danielle Brooks – als Cecies beste Freundin und Empowerment-Mentorin Sofia – zu einer verschworenen Schicksalsgemeinschaft gegen die Männerwelt. Ihren Song „Hell No!“ eröffnet Brooks mit einem beherzten Tritt durch eine Tür.

 “What About Love?”: Die zarte Romanze zwischen Celie (Fantasia Barrino) und Shug (Taraji P. Henson) muss man diesmal nicht zwischen den Zeilen suchen.
 “What About Love?”: Die zarte Romanze zwischen Celie (Fantasia Barrino) und Shug (Taraji P. Henson) muss man diesmal nicht zwischen den Zeilen suchen.

© PHOTOGRAPHER/Eli Ade´

Der Musical-Film um das Trio Barrino-Henson-Brooks übersetzt den von Walker Anfang der 1980er Jahre geprägten Begriff „Womanism“ – die Selbstbehauptung schwarzer Frauen und ein Ausdruck von schwarzer weiblicher Solidarität – in eine performative Geste.

Ermächtigung im gemeinsamen Tanz

Indem Bazawule den Fokus vom Missbrauch der Männer, den Celie und ihre Schwester Nettie erfahren (als junges Mädchen gespielt von der Sängerin-Schauspielerin Halle Bailey, als Erwachsene von der HipHop-Ikone Ciara – womit der Regisseur seine Pop-Sensibilität einbringt), auf die Autonomie der Frauen und der Ermächtigung ihrer Körper im gemeinsamen Tanz lenkt, ist seine Version von „Die Farbe Lila“ eher im Sinne der Autorin. Fantasia Barrino spielt diesen Prozess der Selbstfindung nicht weniger berührend als vor vierzig Jahren Whoopi Goldberg, aber bei ihr überträgt sich die Befreiung in Bewegung.

In Deutschland kommt „Die Farbe Lila“ einen Tag vor dem 80. Geburtstag von Alice Walker in die Kinos. Ein guter Anlass auch, noch mal an das Lebenswerk der Schriftstellerin zu erinnern, die in den vergangenen Jahren dank antisemitischer Äußerungen zunehmend in die Kritik geraten ist. Walkers Spiritualität hinsichtlich einer black female experience kommt im optimistischen Genre des Musicals, das seine Transzendenz in der Künstlichkeit findet, schöner zum Vorschein als in Spielbergs Kitchen-Sink-Drama. Das Leuchten in Fantasia Barrinos Gesicht gleicht einer Epiphanie.