„Dichter, Naturkundler, Welterforscher“ : Neue Biografie über den Schriftsteller Adelbert von Chamisso

Adelbert von Chamisso (1781-1838) ist heute vor allem für ein Buch berühmt: „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, in der die Hauptfigur ihren Schatten an den Teufel verkauft, eine humoristische Parabel von zeitloser Faszination.

Gegen das Vorurteil, der Schriftsteller sei nur ein One-Hit-Wonder der deutschen Literaturgeschichte gewesen, hat der Evolutionsbiologe und Wissenschaftshistoriker Matthias Glaubrecht jetzt eine umfangreiche Biographie geschrieben. Der Hamburger Professor für Biodiversität hat bereits Biografien über Charles Darwin und Alfred Russel Wallace verfasst. Auch bei Chamisso legt er den Akzent auf dessen zweite, weniger bekannte Existenz als Naturwissenschaftler.

Genaues Studium der Manteltierchen

1781 wurde er als Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt auf Schloss Boncourt im Nordosten Frankreichs geboren. Seine Kindheit war überschattet von der Französischen Revolution. Die Familie musste nach Preußen fliehen; der mittelalterliche Stammsitz wurde in ihrer Abwesenheit zum Abbruch freigegeben. „Aus seiner Kindheit in die Kriegswirren hineingezogen zu werden, ist das Trauma seines Lebens“, urteilt Glaubrecht.   

Der junge Chamisso wird Page am preußischen Königshof und tritt mit siebzehn Jahren seinen Militärdienst an, schiebt Wache am Brandenburger Tor. Der Drill und die Stumpfheit in der Kaserne öden ihn allerdings an. Er intensiviert seine Beschäftigung mit Literatur und Philosophie, taucht ein in das rege intellektuelle Leben Berlins um 1800 und beginnt zu schreiben. In den napoleonischen Kriegen kennt er keinen Zweifel, auf welcher Seite er steht. Er deutscht seinen Vornamen zu Adelbert ein und sehnt sich nach Kampfeinsätzen, vor denen das Glück ihn bewahrt.

Das Schiff steckt westlich von Gibraltar fest

Mit einunddreißig Jahren erfindet er sich noch einmal neu und beginnt ein Studium der Naturwissenschaften. 1815 geht er dann als Bordwissenschaftler der in russischen Diensten stehenden Rurik auf eine dreijährige Weltreise, die sich mit Cooks Weltumseglungen vergleichen lässt. Ihre offizielle Mission ist die Suche nach der schiffbaren Nordostpassage. Glaubrecht widmet dieser Reise zwei Drittel seines Buches. Mit detailfreudigem Stil zeichnet er die historische Hintergründe und das Lebensgefühl der Epoche, vermittelt literarische Bezüge und vor allem wissenschaftliche Zusammenhänge.

Als die Rurik in einer Flaute westlich von Gibraltar festhängt, widmet Chamisso sich eingehend dem Studium der Salpen, durchsichtigen, tönnchenförmigen Manteltieren. Und entdeckt dabei als erster Forscher überhaupt die Metagenese: Von Generation zu Generation wechseln die Tiere ihre Erscheinung und ihren Fortpflanzungsmodus. Im weiteren Verlauf der Reise macht Chamisso bei der Forschungsarbeit – ob auf den Kanaren, in Brasilien oder auf der subarktischen Halbinsel Kamtschatka – allerdings das miserable Wetter zu schaffen.

Zeuge einer globalen Kältekatastrophe

Kälte, Dauerregen und Schneefälle zu unüblichen Jahreszeiten. Was damals unverstanden blieb, kann Glaubrecht in einem faszinierenden Klima-Kapitel erklären: 1816 und 1817 waren Jahre ohne Sommer, verschuldet durch den gigantischen Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora, der einen schwefligen Schleier um die Erde legte. Chamisso wurde Zeuge einer globalen Kältekatastrophe, die in China, Indien und Irland schwerste Hungersnöte nach sich zog.

Vor Alaska machen die Reisenden eine weitere bedeutende Entdeckung: den Permafrostboden, der erstmals von Chamisso beschrieben wird. An einem abgerutschten Uferhang werden unter einer dünnen Erd- und Moosschicht Massen blanken Eises sichtbar. Damals hatte man noch keinen Begriff von den Eiszeiten, und so war ein tieferes Verständnis des Phänomens noch nicht möglich. Auch fossile Mammut-Stoßzähne werden gefunden. Chamisso legt sie sorgsam beiseite, muss aber später feststellen, dass die Mannschaft, die überhaupt wenig Verständnis zeigt für sein Sammeln von Naturobjekten, sie für das Lagerfeuer verwendet hat.

Mammut-Stoßzähne landen im Feuer

Man lernt viel bei Glaubrechts Exkursen in die Kontexte. So sehr er Chamisso als Naturforscher und frühen Ethnologen würdigt – auch er war in den Begrenzungen des Denkens seiner Zeit gefangen. Sein Blick ist doppelt determiniert: Europäischer Fortschrittsoptimismus verbindet sich mit der Melancholie über die Ursprünglichkeit, die mit der Ausbreitung ebenjenes Fortschritts verloren geht. Die Verherrlichung des „Naturzustands“ ist von Denkern wie Rousseau beeinflusst und projiziert die Sehnsüchte der von der Aufklärung überforderten Europäer auf die Südsee. Ein Leben in Harmonie, Frieden und freier Liebe meinten die Reisenden der Expedition zwischen ihren Nordfahrten dort zu erleben, begeistert von den spärlich bekleideten, blumenbekränzten Frauen, die ihr Begehren offen zeigten.

Die Spielregeln der polynesischen Promiskuität, so Glaubrecht, wurden von den Seefahrern nicht verstanden. Chamisso indes irritierte diese Freizügigkeit, die er auf Hawaii schon in einen einzigen großen Bordellbetrieb übergehen sah, in dem sich die Syphilis rasch ausbreitete. Noch weniger passten zu seiner Vorstellung der friedlich-freundlichen Südsee die deutlichen Spuren kriegerischer Konflikte um notorisch knappe Ressourcen.

Kustos am Botanischen Garten Berlin

An ihrer eigentlichen Mission, der Entdeckung der Nordost-Passage, scheitert die Expedition. Das Polarmeer ist vom Packeis verrammelt, und die Rurik wird bei einem Sturm stark beschädigt. Nach der Weltreise wird Chamisso zum Kustos des Königlichen Herbariums am Botanischen Garten in Berlin ernannt. Er heiratet, wird Vater von sechs Kindern und wertet in bodenständigen Gelehrtenjahren den Ertrag der Reise aus. Aus zeitlichem Abstand schreibt er dann sein Buch „Reise um die Welt in den Jahren 1815-1818“.

1838 stirbt der leidenschaftliche Pfeifenraucher an Lungenkrebs. Die Stadt Berlin errichtete ihm als drittem Schriftsteller nach Goethe und Schiller ein Denkmal. Denn auch wenn Glaubrecht dies nur am Rand abhandelt – in den letzten Jahren seines Lebens war Chamisso als Dichter wiederum sehr erfolgreich.

Wie hat man sich das Verhältnis von Dichter und Naturwissenschaftler zu denken? Glaubrecht weist darauf hin, dass es nicht dem entspricht, was der Zeitgeist der romantischen Epoche erwarten ließe. Es geht bei Chamisso nicht um eine funkenschlagende Synthese der zwei Kulturen, wie bei Novalis oder hundert Jahre später bei Robert Musil.

Chamisso hält die Bereiche weitgehend getrennt. Als Grenzgänger zwischen Literatur und Naturforschung war er zugleich ein Grenzzieher, auch wenn seine berühmte Reisebeschreibung zweifellos von seinem literarischen Talent profitiert.