Venedig Filmfestival (5): Erträumte deutsche Wirklichkeiten
Von Venedig aus blickt man an diesem Wochenende nach Berlin. Nicht nur von der deutschen Fraktion am Lido wird der Rücktritt von Berlinale-Leiter Carlo Chatrian mit Bestürzung aufgenommen. Aus Kreisen der Vertreter der Regionalförderer, die sich eigentlich auf die alljährliche Party von German Films an diesem Montag einstimmen wollten, ist zu vernehmen, dass der Berlinale durch das Vorgehen der Kulturstaatsministerin ein immenser Imageschaden zugefügt wurde. Man sitzt also in einem Café auf dem Lido und macht sich um das Festival zuhause Gedanken.
Auch die Biennale-Organisation, die das Venedig Filmfestival ausrichtet, hat gerade so ihre Sorgen. Immerhin ist die Kulturpolitik der Regierungschefin Giorgia Meloni durchschaubarer als die in Berlin – ein schwacher Trost allerdings. Minister Gennaro Sangiuliano arbeitet schon länger daran, alle großen Kulturinstitutionen des Landes mit Führungspersonal zu besetzen, das der postfaschistischen „Fratelli d’Italia“ wohlgesonnen ist.
Multiversum in den Alpen
Auch Biennale-Präsident Roberto Cicutto steht nach Informationen aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen auf der Abschussliste: Sein Vertrag läuft 2024 aus. Die Nachfolge soll der rechte TV-Journalist Pietrangelo Buttafuoco antreten – um die „linke Hegemonie“ in Italiens Kultur endgültig zu beenden. Dagegen muten die hausgemachten Probleme der Berlinale fast harmlos an.
Aber auch der deutsche Film steht am Sonntag im Mittelpunkt. Wobei David Finchers formal schnörkelloser und trotzdem wenig aufregender Thriller „The Killer“ mit Michael Fassbender natürlich mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Timm Kröger ist mit seinem fantastischen Film Noir „Die Theorie von Allem“ eine unbekannte Größe im diesjährigen Wettbewerb, in dem die etablierten Namen dominieren.
Neu ist Kröger in Venedig allerdings nicht, sein Debüt „Zerrumpelt Herz“ lief 2014 in der Woche der Kritik. „Die Theorie von Allem“ ist in seinen Ambitionen nun eine Nummer größer, auch wenn letztlich (durchaus beabsichtigt!) nicht alle Ideen seines filmischen Experiments um Multiversen und menschliche Schicksale aufgehen.
Im Jahr 1962 besucht der Student Johannes Leinert (Jan Bülow) mit seinem konservativen Doktorvater Julius Strathen (Hanns Zischler) einen Physiker-Kongress in den Schweizer Alpen. Im Handgepäck hat er eine gewagte Viele-Welten-Theorie, die bei der Zusammenkunft im wahrsten Wortsinn einem Realitäts-Check unterzogen wird. Da der Stargast sich verspätet, macht sich unter den Anwesenden bald der Müßiggang breit.
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Bis einer der Physiker tot im Schnee gefunden wird – und wenige Tage später wieder quicklebendig vor Johannes steht. Dem begegnet beim Herumstreunen auch die mysteriöse Karin (Olivia Ross), die Dinge aus seiner Vergangenheit weiß, die er mit niemandem geteilt hat.
Kröger arbeitet mit einem Pastiche des Genrekinos vom deutschen Bergfilm der 1920er Jahre über Alfred Hitchcock bis zu David Lynch, seine schroffen Schwarz-weiß-Bilder lassen wiederum an den frühen Lars von Trier denken. Das Zitathafte ist in „Die Theorie von Allem“ jedoch ein Stilmittel, das Spiel mit Klischees und vertrauten Motiven aus der Filmgeschichte erzeugt eine Art Matrix aus Erinnerungsbildern, die zunehmend somnambuler und kryptischer anmuten.
So bleibt die Logik, eben wie in einem Traum, allmählich auf der Strecke. Wer mit dem Multiversums-Konzept aus den Marvel-Filmen vertraut ist, dürfte einigermaßen konsterniert vor Krögers Experiment stehen. Es ist schließlich am Erzähler Dominik Graf, als sich die Zeitebenen vollends selbstständig gemacht haben, Johannes in einem Chris-Marker-haften Epilog wieder in die deutsche Wirklichkeit zurückzuholen. Der muss dabei sogar noch die Schundverfilmung seiner Alpen-Erlebnisse durch einen, ausgerechnet, italienischen Produzenten miterleben. Am Lido nimmt man solche Schmäh aber gelassen hin.