Politische Filme in Locarno: Ein Ort, wo das Kino zu sich findet
Das stärkste Bild dieser denkwürdigen 76. Filmfestspiele von Locarno war ein Schrei: Spät nachts fährt Drogendealer Amir durch die Straßen Teherans; sein Auto ist vollgeladen mit Haschkeksen, Marihuana und Opium. Seine Kunden sind Studenten, Altenheimbewohner und manchmal junge Frauen, die im Ausland ein Leben erfahren durften, welches ihnen das repressive Mullah-Regime zuhause verwehrt.
Amir verschafft diesen Nachtgestalten mit seiner Ware ein wenig Erleichterung. Während eines Trips öffnet eine Kundin das Fenster des Wagens, reißt sich bei voller Fahrt den Tschador herunter und brüllt aus der Tiefe ihrer Seele ein kräftiges „Fuck you!“ in die leere Nacht. Es sind solche Momente der Freiheit und des Aufbegehrens, die Regisseur Ali Ahmadzadeh in „Critical Zone“ seinen Figuren ermöglicht.
Der Locarno-Gewinner wurde heimlich in Teheran gedreht
Ansonsten prägen Ahmadzadehs Film die düstere Enge von Hinterhöfen und Korridoren. Selten war das iranische Kino derart nihilistisch. Die Verachtung gegenüber einem mörderischen Unterdrückersystem lässt sich kaum hoffnungsloser und resignierter erzählen. „Critical Zone“ wurde ohne offizielle Genehmigung mit versteckten Kameras gedreht.
Der Regisseur darf deswegen sein Land nicht verlassen und konnte seinen Preis, den Goldenen Leoparden, am Samstag in Locarno nicht persönlich entgegennehmen. Die Aufmerksamkeit, die der Film durch diese Auszeichnung erhält, könnte das Regime zumindest davon abhalten, noch härter gegen Ali Ahmadzadeh vorzugehen.
Die Jury um den französischen Schauspieler Lambert Wilson zeichnete damit ein Kino kompromissloser politischer Botschaft aus, das zwar nicht dominierte, aber dennoch das überraschend eklektische Wettbewerbsprogramm von Locarno prägte.
Denn nicht nur Ahmadzadeh erzählte von der verzweifelten Lage junger Menschen im Chaos geopolitischer Hotspots. Der israelische Regisseur Dani Rosenberg schildert in „The Vanishing Soldier“ die Tantalusqualen eines 18 Jahre alten Soldaten, der aus dem Gazastreifen in die Arme seiner Freundin desertiert.
Der französische Dokumentarfilmer Sylvain George porträtiert in „Nuit obscure – Au revoir ici, n’importe où“ die Existenz geflüchteter afrikanischer Kinder in der spanischen Exklave Melilla.
Und das Verschwinden einer jungen Aktivistin steht im Zentrum der neuesten Regiearbeit des philippinischen Autorenfilmers Lav Diaz. Sein „Essential Truths of the Lake“ handelt von einem unlösbaren Kriminalfall, der den Ermittler Lieutenant Hermes Papauran zur Verzweiflung treibt.
Ihn quälen brutale Gewissensbisse und Schuldgefühle, denn Papauran war Teil von Rodrigo Dutertes schmutzigem Krieg gegen die Drogenpandemie auf den Philippinen. Dabei wurden viele Kleindealer und angebliche Drogenbarone erschossen. Unschuldige Opfer, die nichts mit dem Ausmaß der Krise zu tun hatten.
215 Minuten lang spürt Diaz in seufzend traurigen Schwarzweiß-Bildern den Folgen von Dutertes Herrschaft nach. Gleichzeitig thematisiert er erstmals auch das Ausmaß der vielen Naturkatastrophen, die das Land heimsuchen und die mit ihren tödlichen Folgen der politischen Gewalt in nichts nachstehen. Das macht aus „Essential Truths of the Lake“ eine weitere traurige Ballade über die Philippinen, ein Land, das scheinbar nie zur Ruhe kommen kann.
Zwei Nachwuchspreise für einen deutschen Debütfilm
An einer weiteren finsteren Weltbeschreibung übte sich in Locarno auch der deutsche Debütfilm „Ein schöner Ort“ von Katharina Huber. Ein wunderbar suggestives Stimmungsbild, das zwei junge Frauen dabei beobachtet, wie sie ein immer leerer werdendes Dorf verlassen wollen. Den mysteriösen Zerfallsprozessen der ländlichen Idylle setzt Huber Radiomeldungen entgegen, die von einer Weltraummission berichten, die Menschen zum ersten Mal an den Rand des Sonnensystems bringen soll.
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In elliptisch angeordneten Kapiteln fragt die Regisseurin in ihrer Kinometapher nach individueller Verantwortung gegenüber Umwelt und Gemeinschaft. Ein apokalyptischer Countdown: verstörend, roh, intelligent. Dafür gab es in der wichtigsten Nebenreihe des Festivals, der Cineasti del presente, den Preis für die beste Regie und die beste schauspielerische Leistung für Hauptdarstellerin Clara Schwinning.
Das Sichten quer durch die Sektionen des Festivals erinnerte häufig an ein groß angelegtes Doomscrolling. Was bedeutet es für das Kino, wenn es sich einer außerordentlichen Fülle an derart defätistischen Geschichten hingibt und eine Endzeitstimmung über all diese unterschiedlichen Bilderwelten legt?
Vielleicht spiegelte sich hier eine Bewegung wider, die seit der Pandemie auf vielen Festivals zu spüren ist. Das Kino ist längst nicht mehr ein Ort wohlfeiler Utopien. Die Erschütterungen der Gegenwart haben den Maschinenraum der Filmproduktion erreicht. Das Kino und seine Entstehungsmechanismen sind selbst zum Thema geworden.
Nina Hoss als Ur-Enkelin von Johann Wolfgang von Goethe
Keiner hat diese Prozesse besser und überzeugender in Bilder gegossen als der rumänische Regisseur Radu Jude. In seinem wilden Filmessay „Do not expect too much of the end of the world“, ausgezeichnet mit dem Großen Preis der Jury, erzählt er von den krassen Ausbeutungsmechanismen der Gig-Economy.
Über die Figur der Produktionsassistentin Angela (Ilinca Manolache), die echte Opfer von Arbeitsunfällen castet, um werbewirksame Sicherheitsvideos zu drehen, spürt Jude seismografisch den pervertierten Formen der Bilderbeschaffung nach.
Angelas vulgäre Tiktok-Videos stehen dabei gleichberechtigt neben den Arbeitsfilmen ihrer Firma: Found-Footage-Material aus dem kuriosen Sammelsurium der rumänischen Filmgeschichte, Uwe Bolls Dreharbeiten für ein Sci-Fi-Werk und einem Gastauftritt via Zoom von Nina Hoss als angebliche Ur-Enkelin von Johann Wolfgang von Goethe.
Mit seinem chaotischen Ideengewitter liefert Bären-Gewinner Jude („Bad Luck Banging or Loony Porn“) ein bitterböses Röntgenbild der globalisierten Filmwelt, die langsam an ihren Erschöpfungssymptomen zugrunde geht. Kurioserweise wird die Selbstausbeutung zum einzigen legitimen Mittel des künstlerischen Überlebens. Ein genialer Treppenwitz, der den Film zu einem intellektuellen Triumph macht.
Trotz dieser erstaunlichen Menge an dämmrigen Endzeitbildern keimte am Lago Maggiore auch eine kleine Hoffnung auf. Sie liegt im kollektiven Widerstand, im Streik, in der Idee, dass sich über eine Geste der Solidarität eine Änderung der Verhältnisse einstellt.
Viele Filme in Locarno inszenierten die Arbeitsniederlegung als Beginn einer neuen Zeit. So läuten streikende Plantagenarbeiter im Wettbewerbsfilm „Sweet Dreams“ der Regisseurin Ena Sendijarević das Ende der niederländischen Kolonialherrschaft in Indonesien ein.
Die Hollywood-Streiks finden auch in Locarno Widerhall
In der Retrospektive, die sich dieses Jahr dem populären mexikanischen Kino der 1940er bis 1960er Jahre widmete, konnte man sehen, wie die streikende Busfahrergewerkschaft von Mexiko-Stadt einen Kollegen aus der Arbeitslosigkeit holt.
Und es war sicherlich kein Zufall, dass in Locarno auch der letzte große Kinosozialist Ken Loach seinen Cannes-Film „The Old Oak“ auf der ausverkauften Piazza Grande vorstellte – und sich vor Ort mit allen streikenden Arbeitern solidarisierte. Ob er damit auch die Schauspieler und Drehbuchautorinnen in Hollywood meinte?
Der anhaltende Doppelstreik hatte jedenfalls Auswirkungen auf die Anwesenheit von Stars in Locarno. Mehrere Schauspielgrößen haben ihr Kommen abgesagt, darunter auch die zweifache Oscargewinnerin Cate Blanchett, die als Produzentin nicht ihren australischen Film „Shayda“ auf der Piazza Grande vorstellen konnte.
Dennoch solidarisierte sich das Festival als erste Veranstaltung dieser Art offen und direkt mit den streikenden Kreativen. Alles im Sinne eines besseren, fairen Kinos, das seine populäre Seite genauso betont wie seinen Kunstwillen.
Dieser Bandbreite des Kinos gibt Locarno traditionell eine Heimat. Dass dies in den letzten Jahren so erfolgreich funktionieren konnte, ist auch ein Verdienst des Festivalpräsidenten Marco Solari, der das Festival nicht nur sicher durch die Pandemie manövrierte, sondern in seiner Amtszeit auch mehrere Direktorenwechsel verkraften musste.
Nach 23 Jahren gibt er seinen Posten an die global vernetzte, milliardenschwere Kunstmäzenin Maja Hoffmann ab. Wie ihre Pläne für die Zukunft des Festivals im Tessin aussehen, ist noch offen. Für Locarno wäre zu hoffen, dass es weiterhin eine konzentrierte, wagemutige Filmschau bleibt, in der das Kino für zehn Tage im August zu sich selbst finden kann.