Comic über das Leben mit Pädophilie: Der Kampf gegen sich selbst

„Sei normal und schreib ihr!“ rät Aarons Freund Theo im letzten Drittel des Comics. Dass Aaron gegenüber einer Frau gleichgültig ist, die eindeutig Interesse an ihm gezeigt hat, geht über Theos Horizont. Sie beide sind 20 – woran sonst als Sex sollte Aaron schon interessiert sein?

Nur ist für Aaron nichts mehr „normal“ – er selbst in seinen eigenen Augen am allerwenigsten. Dabei sind die Bilder, die sein Schöpfer Ben Gijsemans in seinem Buch „Aaron“ (aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf, Edition Moderne, 216 S, 35 €) von ihm zeichnet, lange Zeit harmlos, sanft koloriert, gezeichnet in klaren, weichen Linien, die an Jugendstilgemälde erinnern.

Beobachtung aus der Halbdistanz: Eine Seite aus „Aaron“.
Beobachtung aus der Halbdistanz: Eine Seite aus „Aaron“.
© Edition Moderne

Aaron liest Superhelden-Comics, daddelt auf seinem Computer und lernt für eine Prüfung. Ein junger Mann wie viele, dunkelhaarig, ein bisschen linkisch. Aber er starrt zu oft ins Leere, wirkt angespannt.

Wann vergreift er sich zum ersten Mal an einem Kind?

Immer wieder blickt er suchend aus dem Fenster auf einen Bolzplatz. Wo ein kleiner Junge mit einem Fußball vor sich hin kickt. Und dann zoomt Aaron auf Facebook, wo sein Bruder Fotos der neuen Freundin postet, auffallend nah an deren kleinen Sohn heran.

Männer-Klischees: Eine Superhelden-Szene aus „Aaron“.
Männer-Klischees: Eine Superhelden-Szene aus „Aaron“.
© Edition Moderne

Jede von Aarons Handlungen zerlegt Ben Gijsemans in eine Sequenz fast identischer Bilder, immer zwölf pro Seite, alle gleich groß. Nur winzige Veränderungen zeigen: Aaron hat sich nochmal zum Fenster gedreht, runzelt die Stirn oder wälzt sich im Bett. Das zerdehnt die gezeigte Zeit ins schier Unendliche.

Über die Bilder legt sich eine Atmosphäre von Unbehagen. Denn natürlich ist uns Lesenden schnell klar, dass Aaron sich zu Kindern hingezogen fühlt. Von da an ist jedes Bild mit Bedeutung aufgeladen. Wann vergreift sich Aaron zum ersten Mal an einem Kind?

Gar nicht. Denn Ben Gijsemans geht es nicht um eine Anklage gegen sexuellen Missbrauch. Er zeichnet das Porträt eines Mannes, der genau weiß, wie gefährlich sein Begehren für ein Kind ist. Und schafft so einen Comic, der nicht abstößt, sondern berührt. Gijsemans macht klar: das Leben mit Pädophilie ist ein Drahtseilakt.

Ablenkung durch Superheldencomics

Wie ein Dokumentarfilmer beobachtet er seine Hauptfigur aus der Halbdistanz und folgt ihr durch heikle Situationen. Etwa ein Wochenende mit dem Bruder, dessen Freundin und deren Sohn, mit dem Aaron das Zimmer teilen muss. Hier kommt es zum einzigen Übergriff: Aaron umarmt den schlafenden Jungen. Und reißt sich gleich wieder los. Nichts passiert.

Das Titelbild des besprochenen Buches.
Das Titelbild des besprochenen Buches.
© Edition Moderne

Nur wir als Mitwissende werden Zeugen von Aarons Misere. Denn so unmöglich eine erfüllte Beziehung für ihn ist, die Sehnsucht danach lässt sich nicht abschalten. Oder gar mit einer Frau verdrängen. Und das in einer Gesellschaft, die „Normalität“ erwartet und Pädophilie ächtet – obwohl längst nicht alle Pädophilen zu Tätern werden.

Eine Möglichkeit, sich für kurze Zeit abzulenken, bieten Aaron seine Superheldencomics. Ben Gijsemans zeichnet sie im Stil alter Groschenhefte nach und platziert sie zwischen den Episoden der Graphic Novel. Samt der billigen Ästhetik, ihrer hanebüchenen Logik und Helden wie Red Thunder oder Snipermind.

Aber in deren Universum gibt es keinen Platz für Entwicklung. Ihre Männlichkeit sieht weder Schwächen vor noch gefährliche sexuelle Neigungen. Sie stecken fest in Klischees. Da wirkt es nur logisch, dass Gijsemans Aaron immer wieder als Superheldenfigur zwischen den Episoden darstellt – mit traurigem Gesicht.