Marokkos Siegeszug bei der Fußball-WM: „Wir können jedem die Stirn bieten“

Den historischen Moment haben nicht alle zur gleichen Zeit erlebt. Weil der Alltag auch im Traumzustand noch einigermaßen weitergehen muss, musste jeder das WM-Viertelfinale zwischen Marokko und Portugal so verfolgen, wie es die Arbeit und die Umstände zuließen. Die Taxifahrer hörten im Radio zu, die Ladenbesitzer und Souk-Verkäufer schauten auf ihren Handys den Livestream, und auf dem Platz vor dem Hafen standen wieder Tausende vor der Leinwand. Wie ein Kräuseln ging der Jubel also durch die Stadt von Essaouira. Ein Kräuseln, das bald zu einer Welle wurde.  

Als der Schlusspfiff ertönte, wurde die Stadt schon zum dritten Mal innerhalb einer Woche zum Tollhaus. Auch in Casablanca, Fes, Marrakesch und Rabat gab es wilde Szenen in den Straßen. Und ein paar Minuten nach dem Abpfiff versuchten die Journalisten, das ganze Chaos in einer Überschrift abzubilden. „Das Unmögliche ist nicht marokkanisch“, titelte „Le Matin“ auf seiner Homepage. „Die epische Reise geht weiter: Festtage in Marokko“ hieß es bei le360.ma.  

Schon mit dem Einzug ins Viertelfinale hatte Marokko Geschichte geschrieben: so weit war das Land noch nie bei einer WM gekommen. Vor diesem Spiel hatte Trainer Walid Regragui seine Spieler ermutigt, für einen ganzen Kontinent etwas Historisches zu schaffen. „Heute steht Afrika endlich wieder im Vordergrund,“ sagte er, nachdem seine Mannschaft als erstes afrikanisches Team der Fußballgeschichte ins Halbfinale einzog.  

Künftige Generationen werden wissen, dass Marokko für Wunder sorgen kann.

Marokkos Torwart Bono nach dem Spiel

Dieser Sieg, dessen waren sich am Samstag alle bewusst, war viel mehr als nur eine weitere Sensation. Mit ihren Erfolgen gegen Belgien, Spanien und nun auch gegen Portugals Cristiano Ronaldo hatten die Marokkaner auch vermeintliche Gewissheiten widerlegt. „Wir mussten die Mentalität der Menschen ändern, diese Idee der Unterlegenheit wegwerfen. Wir können jedem die Stirn bieten, egal auf welchem Niveau. Künftige Generationen werden wissen, dass Marokko für Wunder sorgen kann“, sagte Torwart Bono nach dem Spiel.  

Er war auch nicht der Einzige, der diesen Ton anschlug. Auf den Seiten von Medias24 schwärmte der Soziologe Mohamed Tozy von dem Erfolg und den Feierlichkeiten als „Weg der Moderne für ein pluralistisches Marokko mit einer jungen Generation, die sich auf positive und erstaunlich eifrige Art und Weise die Idee der Nation zu eigen macht“.  

Kein Durchkommen mehr. Marokko feiert seine Fußballer in Rabat.
Kein Durchkommen mehr. Marokko feiert seine Fußballer in Rabat.
© AFP/FADEL SENNA

Rein oberflächlich war in den vergangenen Wochen tatsächlich auch ein wachsendes Selbstbewusstsein zu spüren. Die Anzahl von Nationalmannschaftstrikots in den Sportläden hat sich mit jedem Erfolg gefühlt verdoppelt. Der Verkäufer an der Ecke des Hafenplatzes hatte plötzlich nicht nur Schals von Barcelona und Real Madrid im Angebot, sondern auch Fahnen und Stetson-Hüte in den Nationalfarben. Am Donnerstag, Freitag und Samstag trug fast jeder zweite rot-grün.  

Denn sie glaubten schon vor dem Spiel an das Wunder. Als am Freitag das Viertelfinalspiel zwischen Argentinien und den Niederlanden auf den Bildschirmen lief, dachte eine Restaurateurin in Essaouira sogar schon kalkulierend ein paar Schritte voraus. „Ich will, dass die Holländer gewinnen,“ sagte sie. „Denn gegen sie haben wir im Finale bessere Chancen als gegen Messi.“  

In dem Moment klang es wie eine absurde Theorie, schon vor dem Viertelfinale über das Endspiel zu sprechen. Doch die Ereignisse des Folgetags sollten ihr am Ende Recht geben. Im Halbfinale gegen Frankreich wird Marokko nun wieder der Underdog sein – der „Rocky Balboa der WM“, wie Regragui es am Samstag formulierte. Doch Angst werden sie, genauso wie Rocky, eben nicht haben. Weder auf dem Spielfeld noch auf den Straßen.   

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