Karat begeistern im Nikolaisaal: Echte Rocker überall
Wenn etwas symbolisch für die Musik der untergegangenen DDR steht, dann sicherlich die Ostberliner Band Karat. Nun gut, Die Puhdys sollten der Vollständigkeit halber noch genannt werden, auch City – Blaupausen für das kollektive ostdeutsche Gedächtnis, das im Westen der Republik entweder kaum vorhanden war oder entsprechend diffamiert wurde: „City, Puhdys und Karat – Stasis letzte Gräueltat“, wie es in einem Ruhrpott-Schmähgesang heißt.
Aber genau das tut der letzten aktiven Ostrock-Band Karat, die am vergangenen Samstag ein ziemlich ausverkauftes Konzert im Nikolaisaal absolvierte, auch ziemlich viel Unrecht. Denn die Band war erstens musikalisch auf einem Stand, den die Puhdys niemals erreicht haben, zweitens war Karat nicht weniger als ein Exportschlager: Konzerte im kapitalistischen Ausland waren ebenso drin wie der Gewinn der ZDF-Hitparade im Jahr 1982.
Karat waren so erfolgreich, dass „Wessi“ Peter Maffay der Band nach einem Konzert im hessischen Wiesbaden 1980 den Hit „Über sieben Brücken musst du gehen“ aus dem Kreuz leierte – mit offizieller Erlaubnis, wohlgemerkt. Dass der Song im Laufe der Jahre auch von Xavier Naidoo, Scooter und Helene Fischer interpretiert wurde, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Sänger Claudius Dreilich klammert sich an sein rotes Mikrofon
47 Jahre (und damit nur drei Jahre weniger als die Rolling Stones) später stehen die langhaarigen Blueser nun im Nikolaisaal, dessen Sterilität zunächst völlig konträr zu verrauchten DDR-Konzerten wirkt, da konnte auch die Nebelmaschine nicht viel ausrichten. Dafür gab es wahnsinnig viel Pathos: Sänger Claudius Dreilich – Sohn des 2004 verstorbenen Gründungsmitgliedes und Ur-Sängers Herbert Dreilich – klammert sich an sein rotes Mikrofon, die schweren Ringe vibrieren an der leicht geöffneten Hand, die sich immer wieder zur Faust ballt oder weit gestreckt wird.
Flankiert wird er von zwei extraordinären Musikern: Bassist Christian Liebig und der ebenso in Ehren ergraute (oder ist das noch blond?) Gitarrist Bernd Römer, der das Peace-Zeichen nicht nur auf der Gitarre kleben hat, sondern auch noch als Fußmatte und als Kette um den Hals – Woodstock in der Zone. “Ich liebe jede Stunde”, schmachtet Dreilich den Song von 1981, und da beginnt das zunächst gesittete Sitzplatzkonzert bereits zu eskalieren.
Und die Eskalation beginnt – wie so oft – mit zustimmendem Klatschen im Takt, bevor es die Ersten aus den Sitzen katapultiert. Keyboarder Martin Becker reißt noch schnell die Mundharmonika aus der Hosentasche, und sofort ufert es im Nikolaisaal aus wie bei weiland Led Zeppelin, nur pathetischer. Und immer wieder Standing Ovations als ein weiteres Argument gegen die aufgezwungene Starre von Sitzplatzkonzerten. Claudius Dreilich weiß das Momentum zu nutzen – auch wenn alle anderen DDR-Bands von der Bildfläche verschwunden sind: “Wir machen weiter, ganz klar!” Karat für immer.
Wie bei einem Punkkonzert
Das Publikum rastet unterdessen komplett aus, Abriss im Nikolaisaal, als wäre es ein Punkkonzert Ende der 90er im Archiv. “Blumen aus Eiiiiii!”, schreit Dreilich. Hä, was? Ach so, Blumen aus Eis! Mittlerweile sitzt keiner mehr, die Handflächen im Takt längst wundgeklatscht, tanzend wird auf die Sitze geklettert, es gibt kein Halten. Der Sound schraubt sich währenddessen deeppurpelig durch den Saal – nur noch echte Rocker überall.
Während die Ersten erschöpft in die Sessel sinken, die Handflächen blasig geklatscht, wartet jedoch schon der nächste Kracher: “Der blaue Planet” reißt auch den Letzten zurück in die Horizontale. Den Sack mit “Über sieben Brücken” zuzumachen ist dann ein Leichtes: “Bei aller Bescheidenheit, das Original ist von uns!” Und einmal, aber nur einmal darf man auch der helle Schein sein.
Ein Abend, der so schnell nicht vergessen wird.
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