Der Videobeweis nervt wie am ersten Tag
Vier Minuten, zehn Sekunden. Vier Minuten und zehn Sekunden lagen am Samstag zwischen dem vermeintlichen Foul von Herthas Torhüter Oliver Christensen an Frankfurts Stürmer Rafael Borré und der rechtsgültigen Entscheidung von Schiedsrichter Frank Willenborg, Christensens Eingriff nicht mit einem Elfmeter zu ahnden.
Ein Vielfaches dieser unerträglich langen Zeitspanne wird seitdem für Debatten über Willenborgs Entscheidung aufgewendet – ohne dass die Diskutanten bisher zu einem rechtsgültigen Ergebnis gekommen wären.
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Die einen sagen, dass der Schiedsrichter dank der Intervention des Videoassistenten (VAR) am Ende richtig gelegen habe, weil die Berührung Christensens nie und nimmer einen Strafstoß zur Folge hätte haben dürfen.
Die andere Fraktion wiederum beharrt darauf, dass der VAR erst gar nicht hätte eingreifen dürfen, weil Willenborgs ursprüngliche Entscheidung eben nicht klar und deutlich falsch gewesen sei. Dass Christensen Borrés Fuß berührt hatte, war schließlich durch die TV-Bilder zweifelsfrei zu belegen.
Der Videobeweis feiert in diesen Tagen sein erstes kleines Jubiläum im deutschen Fußball. Vor genau fünf Jahren wurde er eingeführt. Und ist es nicht eine schöne Sache, dass in einer Zeit, in der es sonst kaum noch Gewissheiten gibt, zumindest der VAR eine verlässliche Größe geblieben ist? Er nervt wie am ersten Tag!
Der VAR hat die Emotionen auf dem Gewissen
Nein, das ist natürlich keine schöne Sache – vor allem nicht, weil uns der Videobeweis auf immer und ewig erhalten bleiben wird. Es gibt kein Zurück mehr, auch wenn die organisierten Fans wieder und wieder gegen ihn aufbegehren und, vollkommen zurecht, den Verlust an Emotionen beklagen. Tor? Oder doch nicht? Jubeln? Oder doch nicht?
Der Videobeweis wird bleiben. Umso wichtiger ist es, seinen Einsatz (weiter) zu optimieren. Die jüngsten Entwicklungen deuten eher auf das Gegenteil hin. Vor allem im deutschen Schiedsrichterwesen mit seinem traditionellen Hang zur Überkorrektheit.
Es lohnt sich ein Blick zurück auf die Anfänge und dabei auf eine Szene, die vermutlich für die Akzeptanz des Videobeweises eine entscheidende Rolle gespielt hat. Es geht um das irrtümlich gegebene Tor von Leon Andreasen für Hannover 96 gegen den 1. FC Köln. Irrtümlich, weil der Däne den Ball mit der Hand über die Linie gefaustet hatte – was so ziemlich jeder gesehen hatte, nur der Schiedsrichter auf dem Feld leider nicht.
Die Tendenz geht zum Oberschiedsrichter
Nur um solche wirklich dramatischen Fehlentscheidungen gehe es, hat man uns erzählt. Der Schiedsrichter bleibe der Boss, seine Autorität unangetastet, weil der Assistent im Keller nur ein stiller Zuarbeiter sei. Die Realität sieht leider anders aus. Lutz Michael Fröhlich, Chef des deutschen Schiedsrichterwesens, hat schon im Frühjahr gesagt: „Es gibt eher die Tendenz, über fehlende Intervention nachzudenken als über übertriebene Intervention.“
Und so wird der vermeintliche Assistent mehr und mehr zum Oberschiedsrichter, weil inzwischen jeder Pups kontrolliert und noch mal gegengecheckt wird, und das mit der irrigen Ansicht im Hinterkopf, dass Fernsehbilder im Unterschied zur menschlichen Wahrnehmung unbestechlich sind.
Peter Knäbel, der Sportvorstand des FC Schalke 04, hat nach dem unerklärlichen Eingriff des VAR im Spiel seiner Mannschaft in Köln ein schönes Bild für diese unheilvolle Tendenz gefunden. Lauter Kaufhaus-Detektive säßen da im Keller, immer auf der Suche nach einem bisher unentdeckten Vergehen.
Ja, das ist menschlich, weil kein Mensch gerne für einen Fehler belangt werden will, den er womöglich übersehen hat. Aber ging es beim Videobeweis nicht gerade darum: den Einfluss des Faktors Mensch mit all seinen Schwächen deutlich zu reduzieren?