In „Bullet Train“ kämpft er gegen Brad Pitt
Es ist ein guter Zeitpunkt, sich den Namen Brian Tyree Henry zu merken. Es passiert ja nicht alle Tage, dass man in einem Brad-Pitt-Film die allerletzte Szene bekommt – und dann auch noch so eine. Auf Crashkurs, ohne Airbag. Sein Auftragskiller Lemon, der sich mit seinem von Aaron Taylor-Johnson gespielten Partner Tangerine die trockensten Wortgefechte liefert (zwischendurch wird auch geschossen), ist in dem eine Spur zu obercoolen „Bullet Train“ aber auch die einzige Figur, die einem in dem Ensemble aus Pulp-Archetypen ans Herz wächst. Und nicht nur denen, die in ihrer Kindheit ebenfalls von der kleinen Lokomotive Thomas Lektionen fürs Leben gelernt haben.
Bei der Frage, wann er erfahren habe, dass ihm in „Bullet Train“ die letzte Szene gehört, platzt es aus Henry förmlich heraus. „Es ist verrückt, ich habe das erst kapiert, als unser Regisseur David Leitch zu mir kam und meinte ,Wir müssen dich zurückbringen‘. Es war unglaublich zu realisieren, wie viel meine Figur den Leuten bedeutet.“
Für Henry hat das nichts mit persönlichen Eitelkeiten zu tun, sondern mit Haltung. „Ich habe versucht, ihm zu erklären, was es bedeutet, wenn die einzige schwarze Hauptfigur in einem so großen Film, der viele junge schwarze Fans in die Kinos lockt, so früh sterben muss.“
„Bandbreite von schwarzen Lebenswirklichkeiten“
Henry verdient sich in Hollywood gerade Respekt – und das mit ausgesuchten Rollen. Zwar findet sich unter seinen jüngeren Filmen auch Quatsch wie „Godzilla vs. Kong“ oder die Komödie „Superintelligence“. Dem gegenüber stehen aber auch denkwürdige Auftritte als traumatisierter Ex-Häftling in Barry Jenkins James-Baldwin-Adaption „Beale Street“ und sein skrupelloser Gangsterboss mit politischen Ambitionen in „Widows“ von Steve McQueen.
Und in „The Eternals“ war er gerade als erster schwuler Superheld im Marvel-Universum zu sehen. Ein tragischer Held auch, der am Ground Zero von Hiroshima an der Menschheit verzweifelt. Rollen, die Henry sich sehr bewusst aussucht. „Ich möchte die ganze Bandbreite von schwarzen Lebenswirklichkeiten zeigen, speziell die von schwarzen Männern.“
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So eine Rolle war es auch, die Brian Tyree Henry vor sechs Jahren über Nacht berühmt machte: der Gangsta-Rapper Alfred Miles alias Paper Boi in „Atlanta“. Die Comedyserie ist ähnlich schwer kategorisierbar wie Henrys Figur: eine mit der stagnierenden Karriere ringende Lokalgröße zwischen Hip-Hop-Hybris und straßenschlauen THC-Weisheiten. Für Henry, der in Yale Drama studiert hat, war es der perfekte Einstieg.
„Was ich an der Schauspielerei am meisten mag, ist das Arbeiten in Gruppen. Schauspiel ist ein kollaborativer Prozess. Wenn ich ,Atlanta‘ gedreht habe, bin ich nicht zur Arbeit gegangen; ich habe mit Freunden abgehangen. So hat sich das auch bei ,Bullet Train‘ angefühlt.“
Karriere in Hollywood war nicht vorgezeichnet
Der Presse-Marathon nimmt in Berlin sein Ende. Für Brian Tyree Henry ist es in kurzer Zeit schon der zweite Blockbuster. An diese Dimensionen muss er sich erst noch gewöhnen, aber er hat seinen Spaß. Was ihn nach profilierten Rollen in Romanverfilmungen und sozialkritischen Thrillern (nicht zu vergessen: einer Tony-Nominierung für ein Broadway-Stück) an so einem CGI-Ungetüm interessiert hat? Henry lacht: „Ich wollte einmal in einem Film in Zeitlupe vor einer Explosion im Hintergrund weglaufen.” Er habe Lust auf mehr Actionfilme, Killer hat er ohnehin schon gespielt.
Sein Kalender ist an diesem Nachmittag eng getaktet, aber wenn er spricht, klingt er aufgeräumt, fast demütig. Brian Tyree Henry wurde 1982 als Sohn eines Soldaten und einer Pädagogin in den Südstaaten geboren, eine Karriere in Hollywood war da nicht vorgezeichnet.
„Mein Vater hätte sich nie träumen lassen, dass er mal eine Actionfigur von seinem Sohn besitzen würde. Meine Mutter hätte mir das vielleicht zugetraut, aber sie hätte nie gedacht, dass es auch möglich wäre. Sie haben die Jim-Crow-Ära und Vietnam miterlebt, sie haben die Welt sich verändern gesehen und mussten trotzdem erleben, wie alles beim Alten bleibt.“ Henry sagt, er sei schon als Kind ein Charakter gewesen. Er las viel und hat ständig andere imitiert. Die Eltern gaben ihm alle Freiheiten. „Es ist seltsam, dass man seine Eltern ein ganzes Leben lang kennenlernt und irgendwann begreift, dass sie schon ein Leben vor dir gehabt haben. Sie haben mir die moralische Integrität gegeben, an mich zu glauben.“
Es war wichtig, dass Lemon in „Bullet Train“ überlebt
Das sei nicht immer so gewesen. „Mir wurde mein Leben lang gesagt, was ich alles nicht erreichen kann und wo mein Platz ist. Ich bin so vielen Menschen begegnet, die Zweifel in mir gesät haben.“ Das sei für ihn das Schlimmste gewesen, weil man diese Urteile irgendwann akzeptiert. „Bevor wir die Menschen treffen, die an uns glauben.“
Für Henry ist sein Status als schwarzer Schauspieler in der Filmindustrie nicht selbstverständlich, auch darum will er seine Filme weiterhin sehr genau auswählen. „Jede Rolle, ob groß oder klein, hat ihre Herausforderungen. Und wenn diese Stimme bisher noch keinen Raum bekommen hat, sich zu artikulieren, sehe ich mich in der Verantwortung, sie hörbar zu machen.”
Darum war es Henry so wichtig, dass Lemon in „Bullet Train“ überlebt. „Wir sehen jede Woche im Fernsehen, wie junge schwarze Männer sterben müssen. Du musst nur dein Handy anschalten. Diese Realität wollte ich nicht im Film wiedergespiegelt sehen.“ Dieses Bewusstsein ist sicher ein Grund für die Popularität von „Atlanta“, dessen dritte Staffel gerade in Deutschland läuft. Nach dem Treffen denkt man kurz, etwas verblüfft, wie viel von Paper Boi in Brian Tyree Henry steckt: der stoische Humor, sein Realitätssinn. Auch diese Stimme möchte man in Zukunft öfter hören.