„Putin ist kein Historiker“
Herr Morré, als Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst ist Ihr Arbeitsplatz der Ort, an dem die Wehrmacht 1945 kapitulierte. Sie nannten ihn mal „Antikriegsmuseum“. Nun wurden Sie Zeuge eines Angriffskriegs in Europa.
Es ist schrecklich. Unser ganzes Team ist vollkommen schockiert von dem, was in der Ukraine passiert. Ich bin konsterniert, dass so etwas in unserer heutigen Zeit möglich ist, dass ein Angriffskrieg vom Zaun gebrochen wird, mit einer nicht nachvollziehbaren Erklärung. Ein krasser Bruch des Völkerrechts.
Hinter der Trägerschaft Ihres Museums stehen vier Nationen: Russland, Belarus, Ukraine und Deutschland. Ist eine Kooperation in Zukunft noch vorstellbar?
Von Amts wegen muss ich die Hoffnung haben. Wir können auf einer museal-künstlerischen Ebene die Kooperation suchen. Das ist ein Bereich, wo man grenzüberschreitend zusammenarbeiten kann, auch mit verfeindeten Nationen. Und wenn man nur bei einer Vernissage zusammenkommt. An dieser Perspektive halte ich fest.
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Wie kam es, dass Sie am Morgen der Invasion durch Putins Armee alle Flaggen vor dem Museum bis auf die ukrainische abnahmen und den Zusatz „Deutsch-Russisches“ vor dem Museum abklebten?
Wir alle waren schwer schockiert vom Angriff auf die Ukraine und hatten das Bedürfnis, etwas zu tun. Zum Sonnenaufgang werden für gewöhnlich vier Flaggen aufgezogen. Da gab es am Donnerstag ein Innehalten. Ist das jetzt noch richtig? Dann kam die Idee auf, nur die ukrainische Fahne zu hissen. Der Name des Museums stand dazu im Widerspruch. Das Überkleben von „Deutsch-Russisches“ war eine spontane Reaktion, ein zeitlich befristetes Statement der Solidarität mit der Ukraine. In der Nacht sind die Klebestreifen von Unbekannten wieder abgezogen worden.
Hoffen Sie, eines Tages als Deutsch-Russisches Museum wieder alle Flaggen hissen zu können?
Ja, das würde ich gerne. Wir heißen offiziell übrigens nur „Museum Berlin-Karlshorst“. Die Zuschreibung „Deutsch-Russisches“ hat mit der Gründungsgeschichte zu tun. 1994 gab es nur eine deutsche und eine russische Seite. Ukraine und Belarus kamen später dazu. Das ist sicherlich ein Punkt, der zukünftig zu überdenken sein wird. Die Reduzierung auf den amtlichen Namen ist das Beste, was wir jetzt tun können.
Auf Grund Ihrer Position befinden Sie sich in einer schwierigen Situation. Sie gestalten das deutsch-russische Verhältnis ebenso mit wie das ukrainisch-russische. Wie groß ist die Zerrissenheit?
Ich bin jetzt 13 Jahre Teil des Museums und das ist der zerrissenste Moment bisher, noch dazu verbunden mit einem bangen Blick in die Zukunft. Wie kann das jetzt noch alles weitergehen?
Seit Jahrzehnten setzen Sie sich für Verständigung ein. Empfinden Sie den Krieg auch als persönliche Niederlage?
Als Geschichtswissenschaftler habe ich immer die Hoffnung, dass man aus der Historie lernt. Dass die gemeinsame Beschäftigung mit Geschichte einen Wertekonsens schafft. Dass unsere Länder so weit auseinanderdriften, das trifft mich auch persönlich.
Was ist Ihr Kompass in diesen Tagen?
Jetzt wird in der Ukraine geschossen. Aber wir versuchen mit allen Beteiligten des Museums im Gespräch zu bleiben. Redet miteinander! Dialog bewahren! Wir müssen nach Anknüpfungspunkten gucken, wie wir das fortsetzen können.
Haben Sie noch Instrumente in der Hand, um dazu beizutragen?
Die drängendere Frage ist, ob man momentan nicht selbst zum Werkzeug wird, ob man nicht instrumentalisiert wird. Da haben wir zum Glück gute Antennen entwickelt. Karlshorst ist in der russischen und ukrainischen Erinnerung ein ganz wichtiger Ort. Ein Ort des gemeinsamen Sieges. Das hat historisches Gewicht und kann zusammenbringen.
Deutschland trägt die historische Schuld, einen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion gestartet zu haben. Ist Kritik an der russischen Politik hierzulande besonders schwierig?
Dass sich die Bundesregierung bei Fragen der Waffenlieferung sträubt, hat aus meiner Sicht gute historische Gründe. Man müsste das aber auch mal als Begründung anführen. Die politischen Akteure in Deutschland sollten die besondere historische Verantwortung kennen. Das führen diese Tage auch nochmal vor Augen. Kommen Sie in unser Museum!
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Sie sagten mal: „Geschichte und Erinnerung werden wieder zu stark von aktuellen politischen Konstellationen und Zerwürfnissen bestimmt.“ Wie stehen Sie heute zu diesem Satz?
Die Geschichte als solche ändert sich nicht. Der Blick auf die Geschichte ändert sich. Und nach Donnerstag noch mal deutlicher. Wir als Museum leben davon, dass unterschiedliche Nationalgeschichten zusammenkommen. Klar ist aber auch: Was mit dem Überfall eingetreten ist, das können wir nicht rückgängig machen. Wir können von der Ukraine auch nicht verlangen, dass sie das vergisst. Jetzt ist alles anders.
Sie sind Mitglied der Deutsch-Russischen Historikerkommission, die aus Wissenschaftlern beider Länder besteht. Schon in der Vergangenheit beklagten Sie thematische Tabus auf der russischen Seite.
Solche Tabus haben sich in der russischen Gesellschaft über einen langen Zeitraum entwickelt. Da findet eine sehr starke Fokussierung auf die Nationalgeschichte statt. Der Horizont des Sagbaren wird immer weiter eingeengt. Es gibt Narrative, von denen nicht abzuweichen ist. Das macht es schwer, multiperspektivisch zusammenzukommen.
Auch Putin präsentierte groteske historische Ausdeutungen über die Ukraine. Wie bewerten Sie das als Historiker?
Putin ist kein Historiker. Was er da macht, ist geschichtswissenschaftlich nicht haltbar.
[Das Museum Berlin-Karlshorst befindet sich an einem historischen Ort. Vier Nationen sind als Träger beteiligt: Deutschland, Russland, die Ukraine und Belarus. Adresse: Zwieseler Straße 4, 10318 Berlin-Karlshorst, geöffnet ist Di-So 10-18 Uhr, Webseite: museum-karlshorst.de]
In sozialen Medien kursieren derzeit Hitler-Putin-Vergleiche.
Darauf lassen wir Historiker uns nicht ein. Geschichte wiederholt sich nicht.
Befürchten Sie angesichts des Kriegs in der Ukraine ein Wiedererstarken antislawischer Reflexe in Deutschland?
Das kann passieren. Aber die Gesellschaft hat sich stark gewandelt. Insbesondere in Berlin haben sehr viele Menschen einen slawische Hintergrund. Das ist auch eine gewisse Immunisierung vor Stigmatisierungen. Ich hoffe nicht, dass wir wieder in die Falle des Kalten Krieges tappen, dass politische Frontstellung und Lagerdenken auf Forschungsansätze überschwappen. Es gab über Jahrzehnte zu viele Blockaden im Kopf.
Halten Sie persönlich Kontakt zu russischen und ukrainischen Kollegen?
In den letzten 48 Stunden weniger, sonst schon. Das ist der Segen der Technik, dass man sich trotz aller politischer Umstände schnell austauschen kann.
Eine letzte, möglicherweise naive Frage: Was ist Ihre persönliche Hoffnung mit Blick auf die Ukraine?
Dass der Krieg möglichst schnell vorbei ist, damit die Toten sich nicht in unermesslichen Zahlen auftürmen. Dass es gelingt, wieder zusammenzukommen, auch wenn das hilflos klingt. Doch ich sehe leider nicht, dass die russische Politik innehalten wird und etwas zurücknimmt.