Zwischen den Systemen
Irgendwann ist der Mensch nur noch ein verbogenes Regal. Oder ein grobes Ledernetz, das von der Decke hängt. Massiv entfremdet, nicht mal mehr ein Hauch seiner selbst. Zumindest auf der einen Seite des großen, länglichen Raumes. Auf der anderen Seite ist der Mensch ein Arbeitender – und sonst nichts.
Die Ausstellung „Kunst & Hallen. Kunstsinn über Mauern hinweg“ in den Berliner Reinbeckhallen in Schöneweide nimmt die Besucher:innen mit auf eine Zeitreise durch die jüngste Kunstgeschichte. Sie beginnt Mitte der 1960er Jahre in der DDR und endet im heutigen Berlin. Die Ausstellung versucht, die Kunsthalle Rostock mit den Reinbeckhallen zu verbinden, gedanklich wie räumlich.
Kuratorin Tereza de Arruda will nicht nur die Kunst, sondern auch ihren Ausstellungsort ins Scheinwerferlicht rücken. Augenscheinlicher Anlass für die Schau ist die Sanierung der Kunsthalle Rostock, ihre Sammlung kann aktuell nicht vor Ort gezeigt werden. Deshalb wanderte ein Teil des Bestands, der sowohl sozialistische Kunst aus den 1960er- und 1970er-Jahren als auch zeitgenössische Arbeiten umfasst, nach Berlin. Hier wird er durch Arbeiten vor allem von Berliner Künstler:innen ergänzt.
Auf Zeitreise durch die Kunstgeschichte
„Kunst & Hallen“ zeigt ein Potpourri aus Ölgemälden, Skulpturen, Fotografien, Filmplakaten, Videokunst und Aquarellen von 58 Kunstschaffenden. Fast sind es zu viele Exponate, zu viele Genres und Kunstformen, um einen roten Faden zu erkennen. Zumal man sich fragt: Was genau haben Berlin und Rostock miteinander zu tun?
Die Kunsthalle Rostock war der einzige Museumsneubau in der DDR. Geplant wurde er für die „1. Biennale der Ostseeländer“, die in Rostock stattfinden sollte. Weil die Standortfindung sich aber verzögerte, wurde sie nicht rechtzeitig fertig – hier fügt sich bereits eine Verbindung ins heutige Berlin –, und die Biennale musste 1965 im Rostocker Stadtmuseum abgehalten werden. Einmal fertiggestellt, wurde sie für Künstler:innen in ganz Ostdeutschland Anlaufpunkt und für viele auch erster Ausstellungsort.
Natürlich war die Kunst im Realsozialismus nicht frei, dafür aber „realistisch“. Das erkennt man etwa an Otto Schutzmeisters Porträt eines Elektrikers von 1960. Der Mann sitzt in seiner Arbeitsstube, guckt skeptisch – das Gesicht hat einen leichten Gelbstich, das ist das unrealistischste Detail an dem Gemälde.
Realismus auch bei Karlheinz Kuhn, der in grellen Farben malt. Etwa einen „Jungen Werftarbeiter“ mit blauem Helm und rotem Karohemd (1975). An der Art, wie er seine Zigarette raucht, ließe sich eine subversive Laissez-Faire-Haltung hineininterpretieren. Theoretisch.
Der einzige Kunstmuseumsneubau in der DDR
Je weiter die Besucherin durch den Ausstellungsraum wandert, welcher der Innengestaltung der Kunsthalle Rostock nachempfunden ist, desto weniger eindeutig wird die Darstellung des Menschen. Und doch bleibt er im Mittelpunkt künstlerischer Betrachtung. Bei Uwe Kowskis „Selbst mit Himmel“ ist sein Selbstporträt aus Farbklecksen erst aus der Ferne zu erkennen.
[Reinbeckhallen, Reinbeckstr. 11, bis 20. Februar.; Do/Fr 16 – 20 Uhr, Sa/So 11 – 20 Uhr. 24.12.-1.1. geschlossen.]
Natürlich kommt auch Corona-Kunst vor mit Andreas Mühes „Biorobot II“, einer Figur im Schutzanzug mit Detektor in der Hand. Sie liegt in einem Leuchtkasten. Die Serie mit dem Titel „Tschernobyl“ kann ebenso als Anspielung auf die Pandemie gelesen werden, drückt sie doch Sterilität aus und behandelt das Thema der „unsichtbaren Gefahr“. Ein bisschen ist man dieser Bildsprache in den vergangenen zwei Jahren überdrüssig geworden. Aber wenn es um künstlerisches Schaffen in der jüngsten Vergangenheit geht gehören sie einfach dazu.
Porträts von Arbeitern zu DDR-Zeiten und während der Pandemie
Pandemiekunst gibt es auch vom Berliner Künstler Clemens Krauss: In der Ausstellung hängt eine Fotografie seiner Performances 2020 in der Kunsthalle Rostock – damals unter Coronabedingungen. Die Besucher:innen wurden einzeln ins Depot der Kunsthalle gebeten, wo eine Leinwand und ein Stuhl aufgestellt waren. Auf der Leinwand schaltete sich dann Krauss dazu, der auch ausgebildeter Psychoanalytiker ist, und hielt mit ihnen eine 50-minütige Sitzung ab.
Die Metaebene über der Metaebene – das Therapiegespräch auf einem Foto, ohne das Gespräch reproduzieren zu können – bleibt am Ende für die Ausstellung in den Reinbeckhallen. Technisch und zeichnerisch beeindruckend sind die Aquarelle von Sergei Tchoban. Die „Umgedrehte Stadt“ des russischen Architekten zeigt gewaltige, an sozialistische Bauten erinnernde Gebäude, die Kopf stehen. Ganz fein angedeutet, auf den ersten Blick kaum erkennbar, kämpfen sich menschliche Figuren durch diese verrückte Welt.
Der Höhepunkt der Abstraktion folgt am Ende des Raumes, wo der gebürtige Chemnitzer Konrad Mühe zwei verbogene Metallregale zu Menschen werden lässt. Videoprojektoren werfen die Silhouette zweier Figuren an die Wand und auf den Boden. Beide Regale versuchen sich zurechtzubiegen – doch wie im Leben klappt das nicht.
Zwar wird in der Ausstellung die Verbindung Rostock und Berlin nicht auf Anhieb deutlich, umso besser lässt sich der Regimewechsel im Laufe der Zeit ablesen – die heutige Freiheit im Vergleich zur reglementierten Kunst der 1960er und 1970er Jahre.