Showdown auf der Abiparty

Ein Titel, so hinreißend, dass man ihn unentwegt deklamieren möchte. Eine Autorin, die für ihr Romandebüt „Nach vorn, nach Süden“ im vergangenem Jahr mit einhelligem Lob überhäuft wurde – da kann ja gar nichts mehr schief gehen. Und tatsächlich hat es Sarah Jägers Roman „Die Nacht so groß wie wir“ bei der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur bereits zum „Buch des Monats November“ gebracht.

Maja, Tolga, Pavlow, Suse und Bo – das sind die fabelhaften Fünf, von denen die Coming-of-Age-Geschichte erzählt. Die Freundinnen und Freunde befinden sich an einem tonnenschwer mit Bedeutung aufgeladenen Punkt ihres Lebens, den Sarah Jäger genial verdichtet: der Abifeier.

Die Reifeprüfung fällt überraschend aus

Auf den offiziellen Teil mit der Zeugnisüberreichung in der Aula des Humboldt-Gymnasiums irgendwo in der Provinz folgt die Abiparty. Oder besser: „Die letzte Nacht unserer Jugend“, wie Pavlow, der eigentlich Bastian heißt, glaubt. „In diesem Papier stecken 13 Jahre unseres Lebens“, kommentiert Maja, die Intelligenzbestie, nachdenklich die erhaltenen Zeugnisse.

Reifeprüfung hat man das Abitur früher häufiger genannt. Und genau so eine steht der Clique bevor, wenn auch ganz anders als gedacht.

Dafür, dass die Jahrgangsstufe eine Party in der Turnhalle feiert, statt des glamourösen Abiballs, der am Humboldt Tradition hat, ist Maja verantwortlich. Die Intelligenzbestie und Politaktivistin, hat ihren Weltverbesserungsehrgeiz eingesetzt, um das mangels Abiball eingesparte Geld für wohltätige Projekt zu spenden. Bei allen populär hat sie das nicht gemacht.

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Beliebt, das ist Suse, die Impulsive, die ihre Herz viel zu schnell an Männer wie Frauen verschenkt und das Interesse genauso schnell wieder verliert. Die Begeisterungsfähigkeit für Menschen, die sie im Übermaß hat, geht Tolga, Majas bestem Freund, gänzlich ab. Sogar am Abitag trägt der wortkarge Nerd Kapuzenpulli.

Ihr Stammplatz ist der Ecktisch in der “Penne”

Alle bis auf Bo, den Outsider von der Droste-Gesamtschule, der trotzdem zu den Fünfen gehört, die in ihrer Stammkneipe „Penne“ hinten links am Ecktisch sitzen, haben das Abi geschafft. Bei Maja steht ein Praktikum in Japan an, bei Pavlow und Suse Freiwilligendienst in Ghana. Das glaubt jedenfalls Pavlow.

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Er ist es auch, der ein Initiationsritual aus Papua-Neuguinea ins Spiel bringt: „Das ist die Nacht, in der wir sterben müssen. Vom Ungeheuer verschlungen und wiedergeboren.“ Wobei Ungeheuer die metaphorische Begegnung mit den schlimmsten eigenen Ängsten meint. Kaum beschlossen, machen sich die Fünf zum Haus von Pavlows Vater auf, in dem er mit neuer Frau und neuen Kindern wohnt. Dabei gehen nicht nur die Fotos der verhassten Zweitfamilie zu Bruch.

Cover von “Die Nacht so groß wie wir”.Foto: Rowohlt Verlag

Sarah Jäger erzählt die individuellen Dramen, die sich nach und nach auftun, mit lakonischer Empathie. Jeder der Fünf wird in den mit ihren Namen überschriebenen Kapitel zur Ich-Erzählerin oder zum Ich-Erzähler. Neben die lineare Schilderung des wie in Zeitlupe auf den Party-Showdown zulaufenden Abend, treten kursiv gedruckte Rückblenden, in denen man erfährt, wie die Freunde sich kennengelernt haben und was sie in den Jahren ihres Unzertrennlichkeitspakts zusammengeschweißt hat.

[Sarah Jäger: Die Nacht so groß wie wir. Roman. Rowohlt Rotfuchs, Hamburg 2021, 190 S., 20 €. Ab 14 Jahre]

„Die Nacht so groß wie wir“ ist ein Freundschaftsroman, der punktgenau und bittersüß ein so nur in der Jugend erlebbares Phänomen beschreibt. Nämlich, dass sich völlig unterschiedliche Charaktere ohne Wenn und Aber zueinander bekennen. Als Schicksalsgefährten, die unter demselben Sportlehrer und derselben Mathelehrerin leiden. Als Stützen, die sich über die Defizite in ihren Familien hinwegtrösten. Und als Aufputscherinnen, die sich zu Abenteuern anstacheln.

Doch wer Ungeheuer ruft, darf sich nicht wundern, wenn sie ihn überwältigen. Als am Ende der Nacht für die Fünf die mehr oder weniger verheißungsvolle Zukunft beginnt, ist zwischen ihnen nichts mehr wie zuvor.