Wachstum der Grenzen
Als Olaf Scholz jüngst im Berliner Westhafen das Abkommen für seine Ampelkoalition vorstellte, lautete der Kernsatz des kommenden Kanzlers: „Uns eint der Glaube an den Fortschritt.“
Der Glaube? Dieses Wort klingt aus dem Mund des bekennenden Antipathetikers Scholz überraschend aufgeladen.
Indes ist eine Glaubensfrage, da werden unsere eher säkularen Politiker wohl durch die Regierungsbank zustimmen, tatsächlich nicht allein eine Sache der Religion. Der Dichter Franz Kafka hat zu dem aktuellen Thema bereits im Dezember 1917 in einem seiner 109 überlieferten Aphorismen notiert: „An den Fortschritt glauben heißt nicht glauben, dass ein Fortschritt schon geschehen ist. Das wäre kein Glauben.“
Vielleicht sollte man Kafkas ersten Satz auch zweimal lesen. Er verweist nicht einfach auf die Diskrepanz zwischen Glauben und Wissen, sondern spielt zugleich auf eine gewisse Grundskepsis an.
In seiner fünf Jahre später entstandenen satirisch-philosophischen Erzählung „Forschungen eines Hundes“ schreibt Kafka dann mit Blick auf die Verbindung zwischen hier hündischem (gemeint: menschlichem) Fortschritt und dem Progress der Wissenschaft: „Gewiss, die Wissenschaft schreitet fort, das ist unaufhaltsam, sie schreitet sogar mit Beschleunigung fort, immer schneller, aber was ist daran zu rühmen? Es ist so, wie wenn man jemanden deshalb rühmen wollte, weil er mit zunehmenden Jahren älter wird und infolgedessen immer schneller der Tod sich nähert.“
Bitte Roger Willemsens “Zukunftsrede” lesen!
Man mag das zunächst nur für Literatur halten, mit einem in der Schlusspointe brillanten Sarkasmus. Aber was hieße da: „nur“?
Die Politikerinnen und Politiker der Ampel würden, soweit sie noch Zeit haben, ein Buch zu lesen, sich in ihrem Fortschrittsglauben vermutlich lieber an den teils mehr, teils weniger bekannten Beispielen delektieren, die Roger Willemsen in seinem letzten Essay „Wer wir waren“, Untertitel „Zukunftsrede“, gesammelt hat.
Der 2016 so früh an einem Krebsleiden verstorbene Geisteskopf und Medienjongleur Willemsen, dessen Nachlass jetzt in der Berliner Akademie der Künste bearbeitet wird, zitiert Kaiser Wilhelm II., 1904 in seinem Mercedes Simplex sitzend: „Das Auto hat keine Zukunft. Ich setzte auf das Pferd.“ Oder Gottlieb Daimler 1901: „Die weltweite Nachfrage nach Kraftahrzeugen wird eine Million nicht überschreiten – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren.“
Ähnlich fortschrittsungläubig äußerte sich in den Zwanzigerjahren der Chef von Warner Brothers zur Wende zum Tonfilm („Wer zum Teufel will denn Schauspieler sprechen hören?“), und der Boss von IBM befand 1943: „Es gibt keinen Grund, warum jeder einen Computer zu Hause haben sollte.“
Mehr Digitalität, mehr Wasserstoff, mehr grüner Strom!
Ja, sogar einer der Pioniere des Internet, sagte der neuen Erfindung 1977 für die zweite Hälfte der 1990er Jahre voraus, sie werde „in einem katastrophalen Kollaps untergehen“.
Das zeigt, neben dem unfreiwillig Komischen, in der Haltung zum wissenschaftlich-technologischen Fortschritt steckt eine merkwürdige Ambivalenz. Wie im Fortschritt selbst. Vision, Utopie, Erfindergeist nähren auch die Faszination durch den Abgrund. Dort, am Rand, sind wir schon einen Fortschritt weiter?
Ein halbes Jahrhundert ist seit den weltweit diskutierten und die längste Zeit folgenlosen Befunden des Club of Rome in seiner 1972 vom Massachusetts Institute of Technology und der Volkswagen-Stiftung ermöglichten Studie zu den „Grenzen des Wachstums“ vergangen. Endliche Ressourcen des Planeten, so der damalige Befund, könnten nicht unendlich weiter ausgebeutet werden, ohne uns selbst zu zerstören.
Unter dem Druck des inzwischen nicht mehr zu leugnenden Klimawandels, der den scheinbar grenzenlosen Progress stark regresspflichtig macht, setzen die neuen Berliner Koalitionäre nun auf einen Fortschritt hin zu mehr Nachhaltigkeit und Erneuerbarkeit. Während die Grünen sich als größten Fortschritt eine ökologische Revolution wünschen, reden die Liberalen mehr von technologischer Evolution.
Ist die Digitalisierung wirklich nachhaltig?
Mehr Digitalität, mehr Wasserstoff, mehr grüner Strom und eine allgemeine „Dekarbonisierung“ der Wirtschaft – das wird, auch von der SPD in ihrer merkelnden Mittelposition, künftig erwartet. Ganz abgesehen von der nach wie vor ungeklärten Finanzierung ist das: ein Experiment.
In den 1950er Jahren hatte die Adenauer-Union ihre Bundestagswahlen noch mit dem Slogan „Keine Experimente“ gewonnen. Das Experiment einer ersten sozialliberalen Regierung stellte dann Willy Brandt 1969 unter das Motto „Mehr Demokratie wagen“. Wenn Scholz-Baerbock-Lindner-Habeck mit dem Label „Mehr Fortschritt wagen“ antreten, soll das jetzt an das „Demokratie-Wagen“ in Willy Brandts erster Regierungserklärung erinnern.
Allerdings, ein Abbau des Obrigkeitsstaats, mehr Bürgerbeteiligung und ähnliche Ingredienzen der Demokratie bedeuteten kaum anderthalb Jahrzehnte seit dem Ende der NS-Diktatur für viele wahrhaftig noch ein Wagnis. Heute aber birgt der „Fortschritt“ keine Mutprobe mehr, denn wer wünscht sich schon „mehr Rückschritt“. Allenfalls wirkt der neue Slogan als Versuch, eine nicht gar zu brüske Zäsur zu markieren gegenüber 16 Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel.
Diese gilt als Inbegriff nicht des Fortschreitens, sondern eher Inne- und Standhaltens: angesichts von Weltfinanzkrisen, einem Zerbrechen der EU oder Katastrophen wie Fukushima, dem Ukraine-Krieg, der vielen Menschen auf der Flucht, den Bränden ums Mittelmeer, und einer deutschen Jahrhundertflut in diesem Sommer.
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„Mehr Fortschritt“ aber klingt auch nicht: nach völligem Umdenken und Umlenken. Der Leitbegriff tönt so positiv wie abstrakt-allgemein. Der Einzelne als Konsument wird im 178-seitigen Koalitionsabkommen von konkreten Zumutungen erstmal nicht belangt. Denn die Kosten der Neuheit bleiben ungenannt. Das erinnert stark an Helmut Kohl und die deutsche Einheit.
Auch Christian Lindner als zukünftiger Finanzminister beschwört ohne jede Gegenrechnung so etwas wie „blühende Landschaften“, wenn er sich und uns das dekarbonisierte Wirtschaftswunder ausmalt. Angetrieben, obwohl gerade hunderttausend IT-Fachkräfte fehlen, von einer irgendwie entfesselten neuen technologischen Kreativität.
Die Grünen wiederum scheinen beim Traum vom notwendigen schnellen Kohleausstieg und einer Energie- und Verkehrswende auszublenden, wie wenig nachhaltig manches neue Licht uns leuchtet. Das betrifft schon die aus Asien importierten Stromsparlampen, die seltenen Erden in unseren Handys oder den Rohstoffverbrauch für die Batterien der vielen erhofften E-Autos.
Man muss kein Fortschrittsleugner sein, um nicht zumindest anzumerken, dass die beispielsweise im Bildungsbereich nicht nur in Corona-Zeiten so erforderliche vermehrte Digitalisierung auch immer mehr Energie frisst. Deshalb ließe sich einmal umgekehrt fragen, in welchen Bereichen Digitalität vielleicht menschenfreundlich und servicenäher zugunsten analogen Handelns ersetzt oder unterlassen werden könnte.
Man würde Robert Habeck gern einmal in Kopf und Herz schauen
Oder auch das: Wegen der zunächst investierten Rohstoffe hat ein E-Auto aktueller Bauart nach neueren Berechnungen erst ab 130 000 gefahrenen Kilometern eine deutlich bessere Klimabilanz als ein herkömmlicher Verbrenner. Aber wer schafft derzeit 130 000 Kilometer im E-Mobil?
Gerade erwähnt: das Wort Bildung. Sie ist für jeglichen Fortschritt der kostbarste Rohstoff in einem sonst rohstoffarmen Land. Zwar ist von ihr im neuen Koalitionsvertrag mit allerhand sozialtechnokratischen Versprechungen durchaus die Rede, aber das Bildungsressort gilt bislang – wie auch bei den Verhandlungen zum neuen Berliner Senat – nicht als Schlüsselministerium
Obwohl es von und mit dem handelt, was die Zukunft, was den Fortschritt unserer Kinder und also des humanen Überlebens ausmacht.
Wir haben mit dem künftigen Kanzler begonnen. Enden wir darum mit seinem Vize, der über die Anhängerschaft der Grünen Partei hinaus für viele ein Kanzlerkandidat der Herzen und Hirne gewesen wäre. Robert Habeck, der nicht nur Bücher liest, sie vielmehr selbst schreibt, schaut bei aller politischen Zukunftseuphorie immer etwas melancholisch drein. Etwa so, als hätte er auch gerade Kafka gelesen. Oder Camus.
Man möchte ihm, was noch bei keiner Talkshow gelungen ist, einmal wirklich in den Kopf und ins Herz schauen. Ihn umflort immer eine leichte Schwermut, gemischt allerdings mit jener untergründigen Heiterkeit, die selbst in der Sage von Sisyphos steckt. Sisyphos rollt den zurückrollenden Stein: trotzdem! Auch das ist jetzt Politik, ist Fortschritt auf Widerruf.