Beton gab es schon vor Christus
Im Zentrum der Ausstellung steht ein temporäres Kino. Über dem Eingang kreuzen sich – nicht Hammer und Sichel, sondern Spaten und Kartoffelstampfer. Im rot gestrichenen Kubus werden rund fünfzig Filme von Heinz Emigholz zu sehen sein, als Sohn eines Gärtners 1948 in der Nähe von Bremen geboren, berühmt für seine Architekturfilme, Documenta-Teilnehmer, beständiger Gast auf der Berlinale.
Nicht ganz so bekannt: der narrative Emigholz, der schalkhafte Erzähler gerade in den neueren Filmen. Einer, der wahre Bilderstürme auch in seinen Zeichnungen entfacht. „Counter Gravity“ – übersetzt: gegen die Schwerkraft – ist ein denkwürdiger Titel für die Werkschau im Haus der Kulturen der Welt (HKW), die sechs Jahrzehnte beleuchtet.
Der Fokus liegt auf den Filmen (insgesamt sollen es aber 100 sein!). Das zeichnerische Opus magnum „Die Basis des Make-Up!“ – 2007 der Hingucker in Emigholz’ Schau im Hamburger Bahnhof und für 2022 in der Techne Sphere Leipzig inklusive Berliner Filmprogramm angekündigt – hätte den Rahmen denn doch gesprengt.
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Nur das Tapetenmotiv zweier schaulustiger Giraffen an zwei Ausstellungswänden voller Material, das nicht oder noch nicht Film ist, bietet ein Zitat aus der seit 1974 fortlaufenden „Basis“. Ihr Titel – gemäß einem Ratgeber für Maskenbildner – spielt auf den Schädel an. Im Schädel schwimmt das Hirn: Was Emigholz sich ausdenkt, wird zuerst in Notizbüchern festgehalten. In den Vitrinen rund um das „Kino“ sind sie reichhaltig aufgeschlagen, eng beschrieben zwischen collagierten Zeitschriftenausschnitten und Skizzen.
„Film schraubt das Denken zurück ins Sein“, sagt Heinz Emigholz
Ein Quellcode für den Künstler, der sich früh über die Eigengesetzlichkeit des Filmens klar wurde: „Film schraubt das Denken zurück ins Sein“, erklärt der Regisseur im Interview mit Co-Kurator Anselm Franke im Katalog. „Abgehobene Gedankensysteme“ seien ihm zuwider, dagegen sei das Filmmedium „zwischen Realität und Denken“ verortet.
Gravitation ist eine Lebenskraft, maßgeblich in der Architektur. Darauf verweist Emigholz mit einem Foto der 1980 eingestürzten Kongresshalle, dem heutigen HKW, augenzwinkernd im Begleitbuch. Mit „Architektur als Autobiographie“, dem Motto seiner Filme über Bauwerke und ihre mal legendären, mal vergessenen Meister, denkt Emigholz nicht nur an die Architekten, sondern auch an sich und das Publikum.
Er betrachtet die Bauwerke nicht als abstrakte Entwürfe, sondern Räume, die allein durch Anwesenheit (und sei es des Blicks) existieren. Er kadriert die festen Einstellungen, mit denen er „Maillarts Brücken“ (1995-2000), „Sullivans Banken“ (1993-2000) oder „Schindlers Häuser“ (2006) erschließt, in schrägen Perspektiven und mit stürzenden Linien.
In „Parabeton“ verbindet sich das Dokumentarische mit dem Essay
Dynamisch sind auch die Konzepte. 2012 entsteht „Parabeton – Pier Luigi Nervi und römischer Beton“. Darin verbindet sich das Dokumentarische mit dem Essay: Zwischen die chronologisch präsentierten, zwischen 1932 bis 1971 entstandenen Bauwerken des Betonbau-Virtuosen sind Bauten der Antike gesetzt. Geschaffen von Nervis Vordenkern. Überraschend: Beton kam bereits vor Christus zum Einsatz.
„Parabeton“ wird bereits am Freitag (15. 10.) im Rahmen eines dreitägigen Symposiums im Haus der Kulturen gezeigt. Bis Sonntag wechseln sich Diskussionen, Kurzvorträge und Filmvorführungen ab. Zu Gast sind unter anderen der New Yorker Filmkurator Dennis Lim und die israelische Kunsthistorikerin Galia Bar Or. Zum Programm gehört außerdem die Uraufführung von „Berlin“ und die deutsche Erstaufführung von „The Lobby“, in dem ein alter weißer Mann über den Tod monologisiert.
In Emigholz-Filmen wird jetzt gesprochen. Nach frühen Experimenten mit Narration in den 1970ern war der Filmemacher zur „Live-Action“ ohne Menschen übergegangen. Seit fünf Jahren kehrt er immer wieder zurück zum Erzählen.
Eine Businessfrau träumt von außerirdischen Pfannkuchen
Mit einjähriger Corona-Verspätung kommt nächste Woche „Die letzte Stadt“ in die Kinos. Mit gewohnter Sensibilität für Stadträume drehte Emigholz in Berlin, Athen, Hongkong, São Paulo und im israelischen Be’er Sheva Dialoge etwa zwischen einem Archäologen und einem Waffendesigner, zwischen einem alternden Filmemacher und seinem jüngeren Ich, zwischen einem Penner und einer Businessfrau, die von außerirdischen Pfannkuchen träumt.
Beim Sex verbacken sich zwei außerirdische Teigwesen ineinander. Dann sterben sie aus, prophezeit der Penner. Naja, entgegnet die Träumerin, am Ende bleibe ein letzter Pfannkuchen übrig, der sich für unsterblich hält. Oder fehlt es nur an anderen Pfannkuchen, die ihm widersprechen?
Im Film selbst hält die Sprache alles im Fluss. Zudem sorgt Emigholz für Sprünge. Mitten in einem Dialogsatz wechselt er den Schauplatz, mit einem Schnitt ändert sich das Outfit eines Akteurs. Fünf der sechs Darsteller:innen spielen je zwei Rollen.
[HKW, John-Foster-Dulles-Allee 10, bis 3.1.; Mi bis Mo 12-20 Uhr. Eröffnungsprogramm 15.-17.10.. Katalog (Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König) 36 €]
Die irdische Existenz: der reine Taumel. Um das zu zeigen, braucht es festen Halt, Statik, ein Stativ. Deshalb bleiben die Kameraeinstellungen unbewegt. Heinz Emigholz hasst Schwenks und Zooms. Zu recht, wie seine grandiose Werkschau begreiflich macht.