Herrenvolk in Trümmerbergen
Wer einen englischen Buchladen betritt, wird feststellen, dass Titel über den Zweiten Weltkrieg immer noch ganze Regalmeter in Anspruch nehmen. Mag die Gegenwart des Königreichs manchmal wenig glorreich sein, der Zweite Weltkrieg, zu dessen Beginn sich das Inselreich fast allein einem anscheinend übermächtigen Gegner gegenübersah, wurde zu Britanniens Finest Hour.
Wie euphorisch mag da die Stimmung 1945 gewesen sein, als Großbritannien endlich über das Böse triumphiert hatte und als Siegermacht mit am Potsdamer Konferenztisch saß, bereit, mit den beiden damals noch Verbündeten über das Schicksal Deutschlands, Europas, vielleicht der Welt zu beraten. Doch ein Beobachter war ganz und gar nicht euphorisch: Der Mann hieß George Orwell.
Sein Kommentar zur Potsdamer Konferenz war so etwas wie der Schlusspunkt einer Reportagereise, die Orwell von März 1945 bis in den November desselben Jahres nach Deutschland und Österreich führte, auf der er vor allem für die linksliberale Sonntagszeitung „The Observer“ seine Eindrücke niederschrieb. Ergänzt durch weitere Artikel aus den Jahren 1940 und 1943 sind sie jetzt neu erschienen, herausgegeben und in einem Nachwort kommentiert vom Historiker und langjährigen „Zeit“-Redakteur Volker Ullrich.
[George Orwell: Reise durch Ruinen. Reportagen aus Deutschland und Österreich. 1945. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. Mit einem Nachwort von Volker Ullrich. Verlag C.H. Beck, München 2021. 110 Seiten, 16 €.]
„Es ist nicht schwer zu erraten, womit sie sich beschäftigen“, schrieb Orwell damals, „dazu braucht man nur kurz innezuhalten und darüber nachzudenken, was die vergangenen Jahre aus der Welt gemacht haben“. Zu diesem Zeitpunkt waren noch keine Konferenzergebnisse nach außen gedrungen, aber Orwell hatte genügend Zeit gehabt, das Erbe des Krieges zu studieren.
Embedded Journalism
Die siegreichen Alliierten begleiteten eine ganze Reihe von Journalisten, Fotografen und Schriftstellern. Bekannte Beispiele sind James Sterns „Die unsichtbaren Trümmer“ über seine Reise durch das besetzte Deutschland oder Carl Zuckmayers Nachkriegsbericht für das Kriegsministerium der USA, die Beobachtungen Martha Gellhorns, damals Ehefrau von Ernest Hemingway oder auf sowjetischer Seite Jewgeni Chaldei, um nur einige zu nennen.
Orwell war seinerzeit noch kein berühmter Autor. Seine „Farm der Tiere“ war noch nicht erschienen, den dystopischen Roman „1984“ sollte er erst noch verfassen, zurückgezogen in eine Kate auf der Hebrideninsel Jura. Möglicherweise wurde die Vision von einem totalitären Überwachungsstaat, der zwei anderen Supermächten feindlich gegenübersteht, auch von dieser Reise mitbeeinflusst.
Seine erste Station auf deutschem Boden war im März 1945 Köln. „Es ist ein äußerst eigenartiges Gefühl, jetzt endlich auf deutschem Boden zu stehen“, schrieb er für die Leser daheim, „das Herrenvolk ist überall um einen herum, bahnt sich seinen Weg auf Fahrrädern durch die Trümmerberge.“ Das Ausmaß der Zerstörung „kann man sich daheim gar nicht vorstellen“, obwohl doch auch Großbritannien unter Bombenangriffen gelitten hatte. Orwells Analyse fiel dabei erstaunlich nüchtern aus. Für Hass mochte es gute Gründe geben, er selbst war davon weitgehend frei: Anders als etwa die Franzosen hatten Briten nicht die Erfahrung machen müssen, in einem besetzten Land zu leben.
Die schmerzhafte Auseinandersetzung mit Verrätern und Mitläufern blieb ihnen weitgehend erspart. Wobei Orwell schon früh Gelegenheit hatte, den gewalttätigen Charakter des Faschismus zu studieren. 1936 war er als Freiwilliger auf republikanischer Seite in den Spanischen Bürgerkrieg eingetreten. Ein Erlebnis, dass ihn auch zum Gegner Stalins machen sollte, kam doch dessen Unterstützung der Republik ebenfalls viele Spanier teuer zu stehen. Doch das war ein begrenzter Konflikt gewesen. Jetzt, neun Jahre später, am Ende eines totalen Krieges, hatte die Zerstörung unvorstellbare Dimensionen erreicht.
Zerstörung zwischen Marne und Rhein
Heute ist davon die Rede, dass die Wiederherstellung der Schäden im von der Flut verwüsteten Ahrtal ein Jahrzehnt beanspruchen könnte. Damals stellte Orwell fest, dass es zwischen der Marne und dem Rhein so gut wie keine unzerstörte Brücke mehr gab. England, so rechnete Orwell vor, würde drei Millionen Häuser neu bauen würde müssen. Deutschland, Polen, Italien, die Sowjetunion hätten sehr viel mehr Ruinen zu beseitigen, auf einem Trümmerfeld, dass sich von Brüssel bis Stalingrad zog. Kein Wunder, dass ihm Zweifel kamen, ob es mit der Zivilisation überhaupt weitergehen könne.
Jetzt war es an der Zeit, einer humanitären Katastrophe zu begegnen. 12 Millionen Displaced Persons irrten durch Mitteleuropa, vor allem Zwangsarbeiter, die von den Deutschen aus einer Heimat verschleppt worden waren, von der sie nicht wussten, ob sie noch existiert. Hinzu kamen Millionen Deutsche, die aus den ehemaligen Ostgebieten flüchteten. Wenn es nicht gelänge, den Krieg vor Beginn der Erntezeit zu beenden, würde eine Hungerkatastrophe drohen.
Vollkommen unklar war, wie mit den deutschen Kriegsgefangenen zu verfahren sei, die in den letzten Wochen des Krieges ebenfalls in Millionenstärke anfielen. Sollten sie als Zwangsarbeiter eingesetzt werden, um die angerichteten Schäden wiedergutzumachen, wie manche forderten? Sollte man die Industrie demontieren und das Ruhrgebiet annektieren? s war kein Mitleid mit den Deutschen, denen Orwell bescheinigte, nach Jahren der Ausplünderung immer noch besser gekleidet und genährt zu sein als viele ihrer französischen Nachbarn, wenn er daran erinnerte, dass die harten Sanktionen nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs den Frieden gesichert hätten. Ein agrarisches Elendsgebiet in der Mitte Europas würde Auswirkungen auf die Welt haben, so sein Urteil.
Viele Zeitgenossen aber, so sie nicht die Schlachtfelder und die zerbombten europäischen Städte gesehen hatten, seien sich selbst im Frühjahr 1945 noch nicht im Klaren über die Zerstörungskraft moderner Kriegführung und die Periode der Verarmung, die vor ihnen lag. Es würde, davon war er überzeugt, lange dauern, den gewohnten Lebensstandard wieder zu erreichen, sofern man nicht das Glück hatte, in den USA zu leben.
Eine multilaterale Welt erschien ihm unausweichlich
Vielleicht wäre Orwells Urteil über die Deutschen härter ausgefallen, hätte er auch eines der befreiten Konzentrationslager besucht. Auch kannte er im Frühjahr 1945 das volle Ausmaß des Holocaust noch nicht. Den verbrecherischen Charakter deutscher Kriegsführung ahnte er allein aus der Behandlung sowjetischer Gefangener, die ihm durch Landsleute berichtet wurde. Während der Potsdamer Konferenz – Japan war noch nicht besiegt, ebenso war unklar, wie tief der Totalitarismus im geschlagenen Deutschland verankert war – schrieb Orwell, vor welchen Herausforderungen die Welt künftig stehen werde.
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Denn eines hatte dieser Krieg seiner Meinung nach bewiesen: Weder kleine noch große Staaten würden unabhängig voneinander agieren können. Die Alternative lag für ihn auf der Hand. Eine multilaterale Welt, in der die Siegernationen sich darauf verständigen, auch künftig zusammenzuarbeiten. Andernfalls würden sie die Welt in Einflusszonen aufteilen und Rivalen bleiben, die sich mehr oder weniger feindselig gegenüberstehen. Orwell ahnte das Ergebnis, in „1984“ malte er die Konstellation in den düstersten Farben aus.
Für seine Heimat Großbritannien sah er voraus, dass sie auf Dauer nicht als unabhängige Nation würde überleben können. Das Land habe „am meisten von internationaler Zusammenarbeit zu gewinnen“, so sein Kommentar zur Potsdamer Konferenz. Das wirkt nach 75 Jahren noch erstaunlich aktuell, in einer Zeit, als das Konzept des Nationalstaats offenbar neue Anhänger findet. Orwells Auffassung setzte sich nicht durch. Spätestens mit dem Brexit scheint sie auch in seiner Heimat zu den Akten gelegt worden zu sein.