Wie viel Freiheit bringt die Kunst wirklich – und für wen?
Am Anfang der Ausstellung „Illiberal Arts“ sieht man zunächst: Nichts. Eine leere, schwarze Kammer empfängt die Besucher:innen neben dem Eingang. Funktioniert die Technik, hört man hier eine Soundinstallation der Künstlerin Johanna Hedva. Funktioniert sie nicht, offenbart sich das kleine Dunkel als gelungene Metapher. Denn diese Ausstellung ist der paradoxe Versuch, nichts zu repräsentieren.
Starre Metallgitter reichen von der Decke des großen Ausstellungsraumes im Haus der Kulturen der Welt (HKW) hinab. Die Installation der Berliner Künstlerin und Venedig Biennalen-Stars Anne Imhof und des Architekturbüros Sub strukturiert den Raum in horizontal verlaufende Gänge. Auf, unter und neben ihnen finden Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen, Sound- und Videoinstallationen zeitgenössischer Künstler:innen Platz.
In den Videoarbeiten der amerikanischen Künstlerin Jordan Strafer stehen weibliche Miniatur-Horrorpuppen vor Gericht, angeklagt für den an ihnen begangenen Mord. Gefangen zwischen Leben und Tod, Schuld und Scham, abstrahieren die Horrorpuppen die Gewalt, denen Frauen in Ländern wie den USA trotz oder aufgrund der liberalen Demokratie ausgesetzt sind. Die Freiheit des Mannes, so die unterschwellig verhandelte These, wird durch Gewalt an Frauen verteidigt.
Die kritische Befragung von Freiheit und ihren Bedingungen ist das Kernthema des Ausstellungs- und Publikationsprojekts „Illiberal Arts“. Das Konzept ist das Ergebnis eines dreijährigen Dialogs zwischen Anselm Franke, Leiter des Bereichs Bildende Kunst und Film des HKW, und Kerstin Stakemeier, Professorin für Kunsttheorie an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg. Sie haben die Ausstellung zusammen kuratiert und setzen es sich zum Ziel, die Kunst zu (de-)liberalisieren.
Denn, so fassen sie zusammen: Der „Verlust westlicher Hegemonie und der Verteidigungskampf um Privilegien und Eigentumsrechte zerreißen den Sonderstatus der Kunst“. Debatten um koloniale Gewalt, systemische Ausschlüsse und kulturelle Wiedergutmachung rückten die Kunst in ein neues Licht: Sie erscheine dann nämlich nicht mehr als Ort der Freiheit, sondern als Austragungsort für Gewalt und Besitzstandsideologie.
Wie lässt sich eine Befreiung der Kunst umsetzen?
Soll bedeuten: Dass liberale Freiheits- und Ordnungsversprechen sich auflösen, lässt sich aktuell nicht nur im Kampf für bezahlbare Mieten, Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung, sondern auch in der Kunst ablesen. Was wir seit Beginn der Moderne als Kunst bezeichnen, scheint nicht zu befreien, sondern schränkt ein, löst Strukturen nicht auf, sondern reproduziert und repräsentiert sie.
Was also kann Kunst jenseits dieser modernen Bestimmung sein? Welche Funktion könnte sie einnehmen, würde man sie von ihrem repräsentativen Horizont lösen und in die soziale Sphäre integrieren? Und wie lässt sich eine solche Befreiung der Kunst umsetzen?
[John-Foster-Dulles-Allee 10, bis 21. 11., täglich außer Di, 12 – 20h]
Im Anschluss an die feministische Publizistin Lu Märten, erweitern die Kurator:innen den Kunstbegriff. Kunst soll nicht kategorisieren, historisieren und repräsentieren, sondern politische Spontanität möglich machen. Sie soll als Lebenspraxis verstanden werden.
Für das Projekt Illiberal Arts bedeutet das konkret, dass die Kunst dabei helfen soll und kann, die Widersprüche des Liberalismus, in die sie selbst verstrickt ist, sichtbar und produktiv zu machen, um ihnen langfristig entkommen zu können.
Solange die Kunst von Institutionen abhängt, ist sie nicht frei
Der Komponist und Schriftsteller Bill Dietz führt vor, wie das gelingen kann. Er hat im Sommer 2020 Stimmen der Black-Lives-Matter Proteste in Brooklyn, New York aufgenommen und lässt diese nun ohrenbetäubend laut vor einem Fenster des Ausstellungsraums erklingen. Während sich sämtliche Touristen auf den Spree-Booten fragen dürften, welche Demonstration in dem Regierungsviertel stattfindet, dringt zu den Besucher:innen in der Ausstellung nicht mehr als ein dumpfes Murmeln durch.
Dem Künstler gelingt damit gleich zweierlei: Er verleiht den Protesten eine laute Stimme in Berlin und macht auf den Rassismus aufmerksam, der allen liberalen Demokratien, Deutschland inklusive, eingeschrieben ist. Gleichzeitig macht Diez aber auch die Grenzen sichtbar, die Museen wie das HKW produzieren. Die strikte Trennung von Innen und Außen, Kontemplation in der Ausstellung und Leben außerhalb, verbannt jede künstlerische Idee in eine symbolische Sphäre und verhindert ihren Einfluss auf die Realität.
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Diez weist damit auf den unlösbaren Widerspruch hin, dem auch diese Ausstellung ausgeliefert ist: Ob er will oder nicht, seine Reinszenierung des Protests wird im HKW zum Objekt und damit zum Repräsentanten, der sich dem kapitalistischen Warenfetisch preisgibt. Solange die Legitimität der Kunst von Institutionen abhängt, ist sie weder frei noch lebendig.
Das Kuratorenduo ist sich diesem Paradox bewusst. In dem Wissen, dass sie den Fängen des modernen Liberalismus nicht entkommen können, ohne permanent selbst auf seiner Klaviatur zu spielen, wollen sie neue Anfänge sähen, nicht vorschnelle Antworten geben. Als Impuls für solche Anfänge dienen neben der Ausstellung auch ein Podcast und öffentliche Workshops. Sie sollen die Kunst als Lebenspraxis langsam etablieren.
Inwiefern dadurch die institutionelle Unterscheidung von Kunst und Leben tatsächlich aufgebrochen werden kann, bleibt jedoch fraglich. Schließlich liegt der stärkste aller Widersprüche von „Illiberal Arts“ vermutlich darin, die Entdeckung neuer Freiheiten an extreme intellektuelle und damit auch elitäre Vorbedingungen zu knüpfen.