Warum der deutsche Fußball in der Krise steckt

Der Deutsche-Fußball-Bund kämpft seit Jahren mit Skandalen und Steuervorfällen im eigenen Haus. Das Image des Verbandes leidet, viele Fans fordern einen Wertewandel im größten nationalen Sportfachverband der Welt. Und nun hat auch noch die Nationalelf den Start in die EM verpatzt und bangt um das Weiterkommen.

Warum steckt der DFB in der Krise?

Anfang Mai wurde Fritz Keller aus dem Amt getrieben. Er ist bereits der dritte DFB-Präsident, der in den vergangenen fünf Jahren gescheitert ist. Er hatte seinen Vizepräsidenten Rainer Koch, von Beruf Richter, mit dem Nazirichter Roland Freisler verglichen. Es war eine Entgleisung, die bezeichnend ist für die Unkultur, die sich beim DFB etabliert hat. Kellers Vorgänger Reinhard Grindel stolperte im Frühjahr 2019 über ein Uhrengeschenk eines ukrainischen Funktionärs. Grindels Vorgänger wiederum, der joviale Wolfgang Niersbach, steht im Verdacht, den „Sommermärchen“-Skandal um die Heim-WM 2006 vertuschen zu wollen. All das ging einher mit einem massiven Ansehensverlust des DFB, die Skandale schaden dem Image.

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Warum hat der Verband viele Fans verloren?

Der DFB hat unter anderem den Kontakt zu den Besuchern im Stadion verloren. Der Versuch, die Nationalmannschaft mit viel Getöse, aber zuletzt ohne sportlichen Erfolg zu einer Marke („Die Mannschaft“) zu machen, kostete Sympathien. Für viele steht auch der gemeinnützige Daseinszweck des Verbandes in Zweifel, den Fußball an der Basis in den vielen Vereinen zu unterstützen und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern.

Sichtbar wurde das vor allem in der Pandemie. Kinder und Jugendliche durften nicht trainieren, während die Profis eine geisterhafte Saison spielten. Hinzu kommt die Debatte über Maßlosigkeiten und Auswüchse des Profifußballs, die sich nicht zuletzt in überkandidelten Ablösesummen und Spielergehältern äußern. Das System sei reformbedürftig, protestierten die Fans.

Welchen Anteil hat der Bundestrainer?

Nach der vergurkten WM wollte es der Bundestrainer unbedingt noch einmal wissen. Wollte allen beweisen, dass er weiterhin über genügend Motivation verfügt, dass er den Umbruch mit neuen, frischen Spielern hinbekommt und die Nationalmannschaft zurück an die Spitze würde führen können. Aber er musste schnell feststellen, dass das nicht funktioniert – und trat zurück. Zwei Spiele brauchte er dafür, um genau zu sein. 1998 war das, nach dem Scheitern der Deutschen im WM-Viertelfinale. Der Bundestrainer hieß Berti Vogts.

Joachim Löw hat nach dem Vorrundenaus bei der WM 2018 drei Jahre dafür gebraucht, um festzustellen, dass es keinen Zweck mehr hat. Wobei: Ob er innerlich wirklich davon überzeugt ist, dass sein Abschied nach der EM richtig ist? Löw hat nach 2018 einfach weitergemacht – weil er anders als Berti Vogts nicht erkannt hat, dass ein einmal gescheiterter Bundestrainer vor allem eines braucht: das Vertrauen des Volkes. Das hat Löw nach anderthalb Jahrzehnten im Amt verspielt. Er ist dadurch in einer Situation, in der er es niemanden mehr recht machen kann: Für die Verbannung von Thomas Müller und Mats Hummels aus der Nationalmannschaft ist er genauso kritisiert worden wie vorher für sein Festhalten an ihnen. Und dass er beide für die EM zurückgeholt hat, ist auch nicht als seine freie und autonome Entscheidung wahrgenommen worden, sondern als Einknicken vor dem öffentlichen Druck. Es zeigte nicht Löws Stärke, sondern seine Schwäche.

Wie steht es um den Nachwuchs?

Knapp zwei Wochen ist es her, dass die deutsche U21 Europameister geworden ist. Für Stefan Kuntz, seit Mitte 2016 Trainer des Teams, war es die dritte von drei möglichen Finalteilnahmen; zweimal holte er den Titel. Hört sich schon wieder verdächtig nach künftiger Fußball-Weltherrschaft an. Doch der Erfolg war vor allem das Ergebnis mannschaftlicher Geschlossenheit, gepaart mit einer ausgeprägten Siegermentalität. Individuell waren die Deutschen vielen ihrer Gegner – den Holländern und Portugiesen zum Beispiel – deutlich unterlegen. Diese Defizite sind seit langem bekannt.

Michael Zorc, Sportdirektor von Borussia Dortmund, hat schon vor einigen Jahren gesagt: „Was die Top-Talente anbetrifft, sind wir überholt worden. Vor allem von den Franzosen, seit einiger Zeit auch von den Engländern.“ Selbst in den U-Teams der deutschen Bundesligisten tummeln sich inzwischen immer mehr Spieler aus dem Ausland, weil sie den heimischen Talenten technisch überlegen sind. Ein wenig sind die Deutschen Opfer ihres eigenen Erfolges geworden, der nicht zuletzt der Nachwuchsreform um die Jahrtausendwende zu verdanken war. Damals hinkten sie der Weltspitze vor allem taktisch hinterher. Also haben sie vornehmlich passsichere Mittelfeldspieler entwickelt, die im Verbund perfekt funktionieren.

Der deutsche Fußball hat zu viel des immer Gleichen ausgebildet, ein Übermaß an zentralen Mittelfeldspielern hervorgebracht, dafür andere Positionen vernachlässigt: offensiv denkende Außenverteidiger, kantige Abwehrrecken, Eins-gegen-eins-Spieler, echte Mittelstürmer – und das zum Teil schon seit Jahren. Auch Hansi Flick, der künftige Bundestrainer, hat das bereits bemängelt: „Unsere Spieler in den Leistungszentren können alle einen perfekten Aufsatz über die Spielsysteme schreiben, aber wir müssen sehen, dass sie in den Basics top sind. Wir müssen sie ermuntern, sich spielerisch auszutoben. Ich möchte Spieler haben, deren Stärke das Eins-gegen-eins ist und die sich auch trauen, diese Qualität einzusetzen.“ Flick hat das gesagt, als er noch Sportdirektor beim DFB war. Vor fast sechs Jahren.

Wie könnte der Neuanfang aussehen?

Der DFB braucht einen kompletten Neuanfang an seiner Spitze, wieder einmal. Neben Keller hat bereits Generalsekretär Friedrich Curtius seinen Posten verloren. Der wollte sich zwar als Gegenpart zu Keller profilieren, ließ aber nebenher seinen Wikipedia-Eintrag von einer externen Agentur frisieren. Auf Kosten des Verbandes. Rainer Koch, der mit Peter Peters den Verband derzeit interimsmäßig anführt, und Schatzmeister Stephan Osnabrügge treten auf dem DFB-Bundestag Anfang 2022 nicht mehr zur Wiederwahl antreten. Fragt sich, ob der Verband zu einer Selbsterneuerung überhaupt fähig ist? Denn der Fußball steht vor einer Zeitenwende, auch wenn das immer noch nicht jeder Player dieser Branche wahrhaben will. Gerade auch der Profifußball braucht kreative Lösungen, die über die abgelaufene Spielzeit hinausreichen. Die Fans fordern einen Wertewandel. Vor allem aber muss sich der Geist in der Zentrale ändern.