Necati Öziris Roman „Vatermal“: Die Kinder vom Bahnhofsvorplatz
Man kennt diesen Arda schon länger, den Ich-Erzähler aus Necati Öziris Debütroman „Vatermal“. In Person von Dimitrij Schaad stand er vor sechs Jahren auf der Bühne des Maxim Gorki Theaters in Berlin und erzählte die Geschichte seiner Familie: von der alkoholkranken Mutter, dem Vater, den er nie kennengelernt hat, der Schwester, die früh von Zuhause weg ging, weil sie das alles nicht mehr ertrug.
„Get deutsch or die tryin‘“ hieß das von Öziri geschriebene Stück damals, in Abwandlung eines Songtitels des US-Rappers 50 Cent. Was nicht von ungefähr kam: Die Sprache hatte einen Rap-Stakkato-Beat, war „real“, wie man früher sagte, und Arda trieb sich auf der Straße mit seinen Kumpels herum.
Der 1988 in Datteln, Nordrhein-Westfalen geborene Öziri hat nun aus dem Theaterstück, das mutmaßlich auf seiner eigenen Lebensgeschichte basiert, einen Roman gemacht und ganz ohne popkulturelle Anspielungen „Vatermal“ genannt. Es ist das einzige, was Arda von seinem Vater hat, ihn an diesen erinnert: ein schwarzer Fleck unter dem linken Auge, ein Leberfleck. Arda befindet sich im Krankenhaus, eine Autoimmunerkrankung greift seine Leber an, und er steht vor dem Badezimmerspiegel und drückt oder imaginiert sich den Fleck weg: Das Erzählen kann beginnen, mit dem Vater, Metin, als Adressat.
Irgendwo im Ruhrgebiet
Arda erzählt im Krankenhaus liegend, wie er mit der Mutter und der Schwester immer wieder auf dem Ausländeramt ist, um, geboren in Deutschland, auch einen deutschen Pass zu bekommen. Was die einige Jahre ältere Aylin mit den Eltern mitmachen musste, da war der Vater noch da. Wie die Mutter, Ümram, nach Deutschland kam, nachdem sie zunächst drei Jahre lang wiederum von ihren nach Deutschland abgewanderten Eltern bei einer missliebigen Tante untergebracht worden war.
Und schließlich wie er und seine „Jungs“ sich die Zeit vertreiben, in der Regel auf einer Bank am „Bahnhofsvorplatz“ irgendeiner Stadt irgendwo im Ruhrgebiet, beobachtet von den „Gabbas“ und den „Russen“ auf anderen Bänken. Und nicht zu vergessen beobachtet von den „Mädchen“, allen voran Susanna, „ein strahlend weißer Adidas-Superstar mit einem Kettchen um den Knöchel“.
Man glaubt Öziri und seinem Arda jedes Wort. Besonders die Szenen auf dem Bahnhofsvorplatz sind hinreißend, die zunehmend melancholischer werdenden Geschichten der Jungs und wie sie auseinanderdriften. Öziris Sprache ist näherungsweise so authentisch, wie sie in den nuller Jahren unter Jugendlichen gewesen sein muss, vom „Ticken“ über „Bro“ bis „Was geht“. Großartig auch die Szene, da die Jungs hinter einem Club abgezogen werden sollen, ausgerechnet die ärmsten Schlucker in der Nachbarschaft.
„Vatermal“ besteht aus lauter Episoden, mitunter durchaus eindrücklichen Szenen, die von Öziri manierlich erzählt werden: ein Roman ist kein Rap-Track und auch kein Theaterstück. Der Perspektivenwechsel passt schon, wenn es um Aylin und Ümran geht. Doch es irritiert, dass beide mitunter in Ardas Krankenzimmer sitzen oder stehen und Öziri plötzlich auktorial ihren Teil der Familiengeschichte erzählt.
Viel Geschraube
Man merkt dann, dass „Vatermal“ zu einem Roman richtiggehend zusammengeschraubt wurde. Öziri vermochte es anscheinend nicht, der Mutter und der Schwester eine eigene Stimme zu verleihen und Tonlagenwechsel vorzunehmen. Auch dass die Story so viele Rundungen bekommen musste, wäre gar nicht nötig gewesen: mit Arda als Literaturstudent in Berlin, mit versöhnlichen Schlussworten des Sohnes an den abwesenden Vater, mit dem Krankheitsbeginn.
Trotzdem: Es gibt Sätze, die nachhallen, die ihre eigene Wahrheit haben, gemischt mit ein bisschen Pathos:„Wenn die Welt auch ständig davon schwafelte, dass wir keine Perspektive hatten, wussten wir: Das Gegenteil stimmte. Wir hatten zu viel Perspektive, hatten Dinge gesehen, die andere Kinder ihr Leben lang nicht sehen, während sie die Kürbissuppe ihrer Eltern löffeln.
So viel Distinktion muss sein. Und Necati Öziris aktuelle Perspektive? Deutscher Buchpreis. „Vatermal“ steht auf der Shortlist, und er hat gute Chancen, am Montag im Frankfurter Römer den Preis zu gewinnen.