Moment mit Langzeitwirkung: Füllkrugs Tor soll beim DFB-Team neue Kräfte wecken
Die laue Sommernacht in Frankfurt am Main endete in deutlich vernehmbarer Disharmonie. Mitten hinein in die Ehrenrunde der deutschen Fußball-Nationalmannschaft ertönten laute Pfiffe.
Aber die waren nicht gegen die deutschen Spieler gerichtet. Im Gegenteil. Auf dem Videowürfel über der Arena war das Bild eines Spielers in Rot erschienen. Die internationale Fachjury hatte Granit Xhaka, den Kapitän der Schweizer, zum „Player of the Match“ gekürt. Den deutschen Anhängern gefiel das ganz und gar nicht.
Wer schon ein paar große Turniere begleitet hat, der weiß, dass solche Wahlen manchmal etwas Erratisches oder Willkürliches haben; dass zum Beispiel Offensivspieler bei solchen Wahlen eher bevorzugt werden, von internationalen Megastars wie Messi oder Ronaldo ganz zu schweigen.
Bei der derzeit in Deutschland stattfindenden Europameisterschaft gab es bisher wenig Anlass zur Klage. Die meisten Entscheidungen waren verständlich oder zumindest irgendwie in Ordnung. Auch für die Wahl von Granit Xhaka ließen sich gute Gründe anführen. Dagegen allerdings auch.
Streng genommen war der Schweizer Mittelfeldspieler ja nur fast der Spieler des Spiels gewesen. Weil Deutschlands Torhüter Manuel Neuer seinen Fernschuss kurz vor Ende der regulären Spielzeit noch aus dem Winkel gefischt hatte, damit das 0:2 des Gastgebers und eben die endgültige Entscheidung zugunsten der Schweizer verhinderte.
Aus Sicht des deutschen Anhangs hätte natürlich Niclas Füllkrug zum Spieler des Spiels gewählt werden müssen. Weil er in der zweiten Minute der Nachspielzeit zum 1:1-Endstand eingeköpft hatte; weil er seinem Team damit den Gruppensieg gesichert hatte – und den Fans in der Arena und draußen im ganzen Land einen Moment der Ekstase beschert hatte.
Das schafft natürlich Erinnerungen und kreiert positive Gefühle innerhalb der Mannschaft.
Niclas Füllkrug über die erhoffte Wirkung seines späten Ausgleichstreffers
„Das war schon eine kleine Explosion“, sagte Füllkrug, auch „ein ganz wichtiger Moment fürs Land, für uns, für die Mannschaft, für die Spieler“. Bei seinem Jubellauf zur Eckfahne hatte sich der Torschütze wie Tarzan abwechselnd mit der linken und der rechten Hand auf die Brust geschlagen. Dann verschwand er in einem Knäuel aus Menschen in weißen Trikots.
In der Ecke des Spielfelds fand zu später Stunde eine Vollversammlung des deutschen Kaders statt. Alle waren dabei: die, die noch auf dem Rasen standen, und die, die auf der Bank saßen. Füllkrug genoss das gemeinschaftliche Erlebnis an der Eckfahne, „weil das natürlich Erinnerungen schafft und positive Gefühle innerhalb der Mannschaft kreiert“.
Erinnerungen an Odonkorund Neuville 2006
Wie so oft in diesen Tagen wurde später das sogenannte Sommermärchen von 2006 als Referenzgröße herangezogen. Da hatte es in der Vorrunde einen ähnlichen Moment gegeben, der später als magisch empfunden wurde. Im zweiten Gruppenspiel gegen Polen gelang den Deutschen in der Nachspielzeit der Treffer zum 1:0 und damit die vorzeitige Qualifikation fürs Achtelfinale.
David Odonkor, vom damaligen Bundestrainer Jürgen Klinsmann zur allgemeinen Überraschung für die WM nominiert, war die rechte Seitenlinie entlanggeflitzt. Er spielte den Ball halbhoch an den Fünfmeterraum, wo Oliver Neuville heranstürzte und zum späten Sieg traf. Alle, die im Stadion dabei waren, schwören bis heute, dass sie nie wieder einen so lauten Jubelschrei erlebt hätten.
„Am Ende war das Stadion auch sehr laut“, sagte Julian Nagelsmann über den Effekt von Füllkrugs Ausgleichstreffer in Frankfurt. Der Bundestrainer wurde sogar explizit gefragt, ob ihm in diesem Augenblick die Erinnerung an Odonkor/Neuville durch den Kopf geschossen sei. Nein, sei sie ihm nicht, antwortete Nagelsmann, dafür sei er „zu sehr im Hier und Jetzt gefangen“ gewesen.
Doch die Analogie lag nahe. David Odonkor und Oliver Neuville waren 2006 genauso von der Bank gekommen wie 2024 Niclas Füllkrug und David Raum, der die Vorlage geliefert hatte. Nur kam der Ball diesmal hoch statt flach und von links statt von rechts. „Das war ein brutal geiler Moment“, sagte Raum.
Im Originalsommermärchen entfaltete der späte Treffer eine wohltuende Wirkung. Die bis dahin noch vorhandenen Zweifel an der Mannschaft verflüchtigten sich urplötzlich, im Volk machte sich Zuversicht breit. Einen ähnlichen Effekt erhofft sich das Team auch jetzt.
„Das kann schon so ein Knackpunktmoment gewesen sein für uns“, sagte Füllkrug. Wenn man ein Drehbuch schreiben müsse, so der Bundestrainer, „dann nehm ich lieber ein spätes 1:1 als ein klares 4:0. Emotionalisierender ist so was.“
Die Dramaturgie des Spiels wurde als Beleg dafür gewertet, dass die Mannschaft auch gegen Widerstände ankämpfen und sie bezwingen kann. „Es ging darum, dagegen zu halten“, sagte Kapitän Ilkay Gündogan. „Man braucht solche Spiele auch während eines Turniers. Hoffentlich kann das neue Kräfte entfalten.“
Schottland, Ungarn, Schweiz: Der Schwierigkeitsgrad in der Vorrunde ist für die Nationalmannschaft mit jedem Spiel ein bisschen größer geworden. Und mit ihm sind auch die Probleme gewachsen, die das Team hatte.
Gegen die Schweiz stand es erstmals am Rande einer Niederlage. Und einfacher wird es im weiteren Verlauf des Turniers wohl auch nicht mehr werden. „Es war eine sehr gute Probe fürs K.-o.-Spiel, ein gutes Zeichen, dass wir auch zurückkommen können“, sagte Nagelsmann.
Bei der Nationalmannschaft hoffen sie, dass Füllkrugs spätes Tor etwas mit der Mannschaft macht. Etwas Gutes. Die Erinnerung soll Halt geben, auch in schwierigen Situationen. Es sei wichtig zu wissen, „dass das Spiel erst vorbei ist, wenn abgepfiffen ist. Wenn du einmal die Situation hast, dass du so etwas drehen kannst, dann denkst du auch im nächsten Spiel daran, wenn du spät noch ein Tor brauchst“, sagte Niclas Füllkrug. „Dann werden alle auf dem Platz den Glauben haben, dass noch was passieren kann.“