Mit den Nerven denken
Der Dichter und Öko-PessimisGünter Kunert nannte den Philosophen und Publizisten Theodor Lessing (1872-1933) einmal einen Propheten. Die Bezeichnung trifft auf beide zu, erst recht, wenn man das Sprichwort einbezieht, demzufolge der Prophet im eigenen Land nichts gilt. Kunert musste die DDR verlassen, Lessing ging 1933 ins tschechische Exil.
Von seinem Hauptwerk „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ und der Autobiografie „Einmal und nie wieder“ blieben nur die Titel geläufig. Prophet war Lessing auch in einem kulturkritischen Sinn, wenn er Amerika als Motor einer Globalisierung und die Konvergenz mit einem Sozialismus vorhersah, die beide im Zeichen des Fortschritts die Weltgesellschaft in eine alles „vernutzende“ (so ein Lieblingswort Lessings) Maschine verwandeln würden.
Prophet war er aber auch im unmittelbaren Sinn, wenn er 1925 vor der Wahl Hindenburgs warnte, der 1933 Hitler zum Kanzler ernannte, ja wenn er gar den eigenen Tod durch Nazimörder vorhersah, die ihn 1933 im tschechischen Marienbad erschossen.
„Es ist möglich“, schrieb er 1925, „dass solch ein fanatischer Querkopf mich niederschlägt, wie sie Rathenau und Harden niedergeschlagen haben. Nun, dann werde ich zu Gott beten, dass es schnell geschehe.“ Es waren gleich drei Mörder, die dafür sorgten. Sie konnten untertauchen, zwei überlebten Hitlers Reich, einer davon unerkannt in der DDR, der andere wurde nach seiner Entdeckung und Verurteilung in der Tschechoslowakei in die Bundesrepublik abgeschoben.
So vergessen war für Jahrzehnte das Ende des Propheten in eigener Sache, dass sich noch kürzlich ein namhafter deutscher Historiker zu erinnern glaubte, Lessing sei Opfer einer akademischen Kampagne geworden, „die den pazifistischen jüdischen Philosophen schließlich in den Selbstmord trieb“.
Die Kampagne gab es, und sie kostete Lessing seinen Lehrauftrag in Göttingen. Dass seine scharfe Feder daran nicht unschuldig war, belegt seine antisemitisch getönte Attacke gegen den Kritikerkollegen und Thomas-Mann-Verehrer Samuel Lublinski, den er als „fettiges Synagoglein“ diffamierte und Theodor Heuss und Stefan Zweig nach einem Ehrengericht rufen ließ.
Einer Gesinnung mit seinen Mördern?
Thomas Mann antwortete – ebenfalls mit antisemitischen Unterton – in einem Essay mit dem Titel „Der Doktor Lessing“ und ließ sich nach Lessings Ermordung sogar zu der Bemerkung hinreißen, dass dieses Ende „einem Lessing anstehen mag, aber nicht mir.“ Ein Jahr später legte er nach: „In der Hauptsache war er einer Gesinnung mit seinen Mördern.“
Die „Hauptsache“ sah er in Lessings Zivilisationskritik und Nähe zur Lebensphilosophie in der Nachfolge Schopenhauers, Nietzsches und seines Jugendfreundes Ludwig Klages. Für Thomas Mann bedeutete sie – mit Georg Lukács zu sprechen – die „Zerstörung der Vernunft“ als vermeintliche Vorboten der nationalsozialistischen Ideologie. Doch so einfach lag die Sache weder bei Nietzsche noch bei Lessing und Klages als Vorläufern der Existenzphilosophie und der modernen Ökologiebewegung. Niemand hat so frühzeitig die „ökologischen Verwüstungen“ der Welt, so Herausgeber Rainer Marwedel, vorhergesehen wie diese beiden.
[Theodor Lessing: Kultur und Nerven. Kleine Schriften 1908-1909. Hrsg. und kommentiert von Rainer Marwedel. Wallstein, Göttingen 2021. 902 und 1018 Seiten, zus. 98 €.]
Das wird besonders deutlich bei einer scheinbaren Nebensache wie Lessings Lebensthema, dem Lärmschutz, dem er 1908 seine Schrift „Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens“ widmete. Dazu rechnete er alles vom Straßenlärm über lautstarke Werbung bis zum Klavierspiel höherer Töchter in hellhörigen Mietshäusern. Mit seinem „Antilärmverein“ schuf er eine Bewegung „zur Bekämpfung von vermeidbarem Lärm“, die „unter dem Spott unserer Gegner“ breiten Zuspruch fand und die Gesetzgebung zum Lärmschutz maßgeblich beeinflusst.
Lessing war sich nicht zu schade, als Organisator, Propagandist und Aktivist des Vereins zu wirken, Leserbriefe zu beantworten und die sich entwickelnde Rechtsprechung zum Lärmschutz zu kommentieren. Noch im Herbst 1933 gedachte die Zeitschrift des Deutsche Lärmschutzvereins ihres ermordeten Gründers „über den Tod hinaus“ mit dem sprechenden Hinweis: „Um bei unserer völlig unpolitischen Stellung jede Missdeutung auszuschließen, dürfen wir heute nicht, wie viele seiner Freunde es wünschten, diese Nummer mit seinem Bilde und Trauerrand schmücken.“
Mit dem Witz von Karl Kraus
Für dieses Kapitel seines Wirkens genügt es, Lessings „Kleine Schriften“ aus den Jahren 1908 und 1909 nachzulesen, die als jüngste Bände seiner Schriften in Einzelausgaben mit dem bezeichnenden Titel „Kultur und Nerven“ erschienen sind. Sie enthalten auf 1000, im zweiten Band auf ebenso viel Seiten erschöpfend kommentierten Seiten, seine Antilärmschrift von 1908 und ihre Quellen, Reflexionen und öffentliche Korrespondenzen, die an Witz, Stil und Insistenz einem Karl Kraus nicht nachstehen.
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Alfred Kerr persönlich erwies Lessing seine Reverenz – „zwar im Grunewald, gelabt von freundlicher Stille“ – mit der scherzhaften Bitte, „wegen des Lärms beim Zimmeraufräumen auf meine Wirtschafterin Einfluss“ zu nehmen. Lessing parierte mit dem Appell an die Wirtschafterin, sie möge Kerrs „liebenswürdige Feder“ vor lärmbedingten Wutausbrüchen in seinen Kritiken bewahren.
Humor und empfindsame Psychologie zeigen in den „Kleinen Schriften“ auch Lessings „Pädagogische Plaudereien“, die mit ihrer „Pädagogik der Freude“ von seiner Menschenerfahrung als Lehrer an Lietz’schen Landerziehungsheimen zeugen. Anspruchsvoller sind Exkurse zu Ethik und Wertaxiomatik Kants, zur Rezeption Darwins und kleinere Studien zu Kunst und Religion. Nur fünf Gedichtzyklen Lessings von 1898 bis 1907 stehen etwas fremd in seine „Kleinen Schriften“ eingereiht. Sie sind uns schon ferner gerückt als der noch immer allgegenwärtige Lärm.